1. Türchen: Opa Karl
Es ist Heiligabend in einem kleinen Dorf an der holländischen Grenze. Karl Langner fährt noch eben schnell nach Venlo rüber und besorgt Kaffee, den hatte er gestern bei seinem Großeinkauf tatsächlich vergessen. Hoffentlich kommen nicht alle anderen Grenzbewohner auf dieselbe Idee. Wahrscheinlich ist aber eher, dass sie alle noch auf den letzten Drücker in den eigenen Supermärkten einkaufen, zumindest waren da heute morgen um acht schon lange Schlangen auf den Parkplätzen.
Er fühlt sich den ganzen Morgen schon nicht so besonders. Wie immer ist er nachts zwei Mal wach geworden, um zur Toilette zu gehen. Er hat sich sagen lassen, dass das für einen 70-jährigen ganz normal ist. Doch in dieser Nacht spürte er eine innere Unruhe, und ungewöhnlich kurzatmig ist er auch.
Gleich will er noch eben zu seiner Nachbarin Anna, ein paar Blumen vorbeibringen, die er für sie gekauft hat. Anna ist immer so freundlich, so nett und zuvorkommend. Trägt seit Jahren schon eine ganze Menge, so ganz allein mit ihren zwei Kindern. Gut, Sascha ist schon 20 und Marie auch schon 16, aber all die Jahre als alleinerziehende Krankenschwester sind nicht spurlos an ihr vorbeigezogen. Sie wird sich über die Blumen freuen. Außerdem will er sie fragen, ob er wohl eigenmächtig was an seinen Herztabletten drehen kann? Irgendwas kommt ihm nämlich komisch vor. Er musste heute auch schon zwei Mal sein Asthmaspray nehmen.
Kurz überlegt er, ob er für seinen Enkel Jan im Coffeeshop Gras kaufen soll. Das wär doch mal ein Geschenk! Sein Sohn Christian, Jans Papa, würde zwar die Augen verdrehen, sich dann aber vermutlich selbst drüber freuen. Doch er kennt sich rein gar nicht damit aus, nachher kauft er irgendein falsches Zeug. Stattdessen greift er zu den schwarzen Bonbons in Totenkopfform, passen auch zu Jan. Und für seinen kleinen Enkel Jonas packt er noch schnell einen der pinkfarbenen Lutscher ein. Jonas malt seit Wochen so ein rosafarbenes Wassermonster mit einem Namen, den sich ein alter Mann wie er nicht merken kann, da gefällt ihm bestimmt auch dieser Lutscher. Und für seinen kaffeesüchtigen Sohn Christian greift er noch zu einer Packung entkoffeiniertem Kaffee, nur um ihn zu ärgern, das wird ein Spaß.
Wenn er gleich zu Hause ankommt, muss er noch flott die Häppchen fürs Buffet heut Abend zu Ende vorbereiten und dann kann es auch schon losgehen – zur Familienfeier bei Christian zu Hause. Wenn nur dieses Ziehen im Brustkorb nicht wäre. Aber das kriegt er schon noch in den Griff
2. Türchen: Christian
Christian dreht am Rad. Es ist Heiligabend, neun Uhr morgens und seine Ex Susanne ist immer noch nicht da. Jedes Jahr bereiten sie gemeinsam das Familienfest an Heiligabend vor, auch nach ihrer Trennung vor fünf Jahren. Aber Susanne hat einen neuen Freund und lässt auf sich warten. Nicht, dass er ihr das Glück nicht gönnt, aber dann soll sie ihn halt zu den Vorbereitungen mitbringen und nicht erst in Ruhe frühstücken, am besten noch im Bett. Verdammt.
Ihr gemeinsamer 16-jähriger Sohn Jan ist auch keine große Hilfe. Er ist zwar – oh Wunder – schon wach, liegt aber leichenblass wie immer auf seinem Bett und hört ohrenbetäubend laut so eine fürchterliche Musik. Über Kopfhörer! Wenn Christian seinem Vater glauben darf, war er selbst früher nicht anders, aber er hat wenigstens seine Anlage auf volle Lautstärke gedreht, damit auch alle anderen was davon hatten. Jan hingegen ruiniert nur seine eigenen Trommelfelle und hört rein gar nichts, wenn man ihn ruft. Das Einzige, was ihm wichtig ist, sind seine schwarzen Klamotten, sein Handy und sein Haarfärbemittel. Vielleicht sollte Christian noch schnell drei Tuben davon besorgen, wäre vermutlich endlich mal ein Geschenk, worüber sich der Sohnemann freut.
Stattdessen versucht er jetzt, die Tische alleine umzustellen, zieht und zerrt die hölzernen Kolosse über das gute Parkett. Darunter kommt sein zweiter Sohn Jonas zum Vorschein, der am allerliebsten unter statt am Tisch malt.
„Welches Meerestier magst du am liebsten?“ fragt Jonas.
Himmel hilf, ist denn hier keiner anwesend, der versteht, dass heute Abend Heiligabend ist und dieser Raum wenigstens ein bisschen festlich aussehen soll?
„Aal“, sagt Christian, „gut durchgebraten.“ Jonas schaut ihn mit großen Augen an.
„Spaß. Mein absolutes Lieblingstier ist natürlich der Hai.“
„Wie langweilig“, sagt Jonas.
„Ja, aber der Hai ist ein dynamisches Tier, packt an, trödelt nicht, färbt sich nicht die Haare und lungert nicht unter Tischen rum. Komm, hilf mir mal!“
Jonas drückt und schiebt mit aller Kraft, die ein Neunjähriger aufbringen kann, und setzt sich danach direkt wieder unter den Tisch.
Susanne ist immer noch nicht da. Christian schickt ihr eine Nachricht: „Los jetzt, bring den Typen mit oder reiß dich von ihm los, oder du bist nächstes Jahr allein dran mit Vorbereiten.“
Er beschließt, erstmal loszuziehen und das bestellte Fleisch im Bauernladen abzuholen. Immer alles auf den letzten Drücker. Aber vorher hat er es nunmal nicht geschafft.
Vielleicht fährt er auf dem Rückweg einfach noch kurz zu seinem Vater auf einen schnellen Kaffee. Und wenn er ganz viel Glück hat, trifft er dort auf dessen Nachbarin Anna, auf die er schon länger ein Auge geworfen hat. Nur leider ist er ja zu dämlich, um sie einfach mal zu irgendwas einzuladen. Vielleicht ergibt sich aber heute die Gelegenheit. Und hey, es ist Weihnachten! Wann, wenn nicht am Fest der Liebe kann man mal jemanden zu einem Drink einladen? Seine Laune hebt sich, er packt die Autoschlüssel und das Handy ein und macht sich auf den Weg. Er steigt in seine alte Rostlaube und fühlt sich fast schon beschwingt
3. Türchen: Jan
Bruder, was für eine nerviger Tag! Jan geht dieser ganze Heiligabend-Scheiß gehörig auf den Zeiger. Er hasst Heiligabend. Er hasst es, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein zu müssen, ohne seine Musik, dafür mit seiner ganzen Familie. Und alle tun so, als wäre alles super. Seit Jahren sind seine Eltern „die besten Freunde“, bereiten gemeinsam das Heiligabend-Essen vor, dabei war er vorher ewig Zeuge, wie sie sich gegenseitig fast zerfleischt haben. Ständig haben sie sich gestritten und jetzt tun sie so, als sei dieser ganze Klimbim das Normalste der Welt. Es ist natürlich cool, dass sie sich wieder verstehen, aber an Heiligabend fühlt er sich einfach immer doof und ist noch schlechter drauf, als sonst.
Außerdem soll er dann auch noch immer reden! Seiner Tante Nina erzählen, wie es in der Schule läuft. Wenn die wüssten. Sein kleiner Bruder wird wieder grinsen wie ein Honigkuchenpferd und die ganze Aufmerksamkeit genießen: das hundertste Lego, das tausendste beschissene Stofftier. Wieder irgend so ein Meerestier-Quatsch aus Plüsch – wie dämlich kann man sein. Am liebsten würde er abhauen. Einfach irgendeinen Bus nehmen und ans Meer, oder so.
Er findet es scheiße, dass heute Abend super viel Geld ausgegeben wird, um den anderen „eine Freude zu bereiten“. Was für ein idiotisches Spiel. Außerdem findet er es total verlogen, dass wieder mal raue Mengen Fleisch auf dem Raclette-Grill landen werden. Man sollte nichts essen, was einmal Augen gehabt hat. Ist doch auch ekelig, die Vorstellung! Und hey! Die Erde schreit, abwechselnd brennt oder ertrinkt sie und seine Eltern meinen, mit Biofleisch wäre wieder alles im Lot? So ein verlogener Quatsch. Gleichzeitig den ältesten Volvo fahren, den die Welt kennt. Wenn man hinter dem steht während der Zündschlüssel sich umdreht, erstickt man quasi! Auf jeden Fall hat man was für seinen zukünftigen Lungenkrebs getan. Er findet diesen ganzen Mist absolut überflüssig.
Manchmal kommt er sich vor wie in einer Parallelwelt, so unpassend fühlt er sich hier. Sein Vater ist ständig beschäftigt mit Job, Haushalt und Super-Daddy sein, ist megastolz auf sein 50/50-Elternprogramm, dass er und seine Mutter sich die Erziehung teilen. Ok, sein Vater ist schon auch irgendwie cool, aber er hört nie richtig zu! Er hat keine Ahnung, was in Jans Welt los ist! Und seine Mutter ist auch nicht besser. Hat alle Nase lang einen neuen Schwarm, hält aber alle vor ihm und Jonas geheim. Was für. Als ob er nicht mitkriegen würde, was da läuft. Er kriegt sofort raus, wenn sie einen Neuen hat und wer das ist. Diese Typen in dem Alter sind so idiotisch leichtsinnig im Internet – die einfachsten Insta-Namen und meistens öffentliche Profile. Voll die weirdos. Allerdings hat er noch nicht raus, wer der aktuelle Freund ist. Der versteht ein bisschen mehr davon, sich zu verstecken. Aber den kriegt er auch noch, schließlich ist er der Meister im Stalken.
Der Einzige in der Familie, der ok ist, ist sein Opa Karl. Der ist cool. Der interessiert sich einen Scheiß für die Meinung anderer Leute. Der hat noch nie was Abfälliges über Jans Klamotten oder seine Haare gesagt. Im Gegenteil: Letztens hat er ihm sogar seinen uralten Motorradmantel aus dunkelgrünem Leder geschenkt, weil er meinte, der passt zu seinem Outfit. Außerdem wollte er am Sonntag mit ihm einen Schnaps trinken, als er gemerkt hat, dass Jan echt mies drauf war. Heimlich natürlich. Jan trinkt aber nicht. Und auch da hat sich der Opa super verhalten. Statt wie seine Schulkollegen zu nerven und sowas wie „ach komm schon, nur ein Gläschen“ zu faseln, meinte er nur, dass er das cool findet. Konsequent und „spitze“. Was für’n Wort, aber dem Opa kann er das nicht übelnehmen. Jan überlegt, gleich kurz zu ihm zu fahren, um bei ihm auf der Couch neben dem alten Ofen noch ein bisschen abzuhängen, bevor der ganze Feierscheiß losgeht. Vielleicht hilft er dem Opa auch mit diesen Häppchen! Die mag er übrigens. So Pumpernickel mit Margarine und Gurken-Zeug. Das Einzige, was er heute essen wird.
Aber erst muss er Jonas unter dem Tisch hervorholen und ihm sagen, dass sie gleich nochmal zu Opa fahren. Auch wenn er den kleinen Scheißer oft nervig findet, alleine lassen will er ihn auch nicht. Sonst haut der wieder ab, wie letztens, als er alleine zum Zoo gelaufen ist. Was für ne bescheuerte Idee. Aber Jonas steht nunmal voll auf das Aquarium. Vielleicht sollte er mal tauchen lernen! Dann kann er die Tiere in ihrer natürlichen Umgebung kennenlernen und nicht eingesperrt hinter Glas. So ne verdammte Tierquälerei! Er fragt gleich mal Opa, was der von der Idee hält. Dann können ja vielleicht alle zusammenschmeißen und dem kleinen Scheißer einen Tauchkurs schenken. Wär mal was Sinnvolles zur Abwechslung.
Hoffentlich begegnen sie beim Opa nicht wieder der Nachbarstochter, dieser Marie. Die guckt immer so komisch weg. Als ob sie vor ihm Angst hätte. Nur, weil er sie früher als Kind immer geärgert hat, meine Güte, ist ewig her. Und als ihr großer Bruder Sascha ihn dann mal so richtig lang gemacht hat, hatte er ja auch sofort damit aufgehört. Na ja, egal. Wär auf jeden Fall besser, wenn er die nicht auch noch heute ertragen müsste.
Shit! Jonas ist die verkackte Milchflasche hingefallen und jetzt liegt sie in tausend Teilen auf dem Boden. Und ihre Eltern sind nirgends zu sehen. Irgendwie hat Jan das Gefühl, dass der Tag heute noch beschissener wird, als er eh schon dachte.
4. Türchen: Jonas
Er steht mitten in der Küche und bewegt sich nicht. Um ihn rum tausend Scherben, die Milch tropft von seinen Füßen. Jan kommt angelaufen, sagt, er solle sich nicht von der Stelle bewegen. Er gibt ihm einen Lappen, mit dem er sich die Milch von den Füßen und den Beinen wischen kann.
„Oh man, Bruder, was ist das denn für‘n Mist. Pass auf, beweg dich nicht, ich versuch das wegzuwischen. Jetzt fang bloß nicht an zu heulen, du Otto. Das ist mir schon hundert Mal passiert. Rate lieber mal, was Papa jetzt dazu sagen würde.“
Jan kommt mit einer Küchenrolle und wischt vorsichtig Milch und Scherben weg.
„Dass Milch ganz schlimm ist, weil es stinkt, wenn man nicht alles wegwischt.“
„Genau. Und was ist die unangefochtene Konkurrenz von Milch beim Stinken?”
„Eier?“
„Richtig! Wenn wir Mama und Papa mal so richtig ärgern wollen, machen wir eine Milch- und Eierschlacht. Im Wohnzimmer. Und dann hauen wir ab. Aber nicht in deinen verschissenen Zoo.“
„Warum bist du eigentlich schon wach?“
„Ich konnte nicht pennen. Ich hab noch keine Geschenke. Eigentlich ist mir das voll egal, aber jetzt hab ich ein schlechtes Gewissen wegen Opa. Dem will ich eigentlich was schenken. Und dann musste ich mitten in der Nacht darüber nachdenken. Und dann konnte ich nicht mehr einschlafen, weil Papa schon um sieben seine Elektro-Musik angemacht hat, so laut, dass alle das mithören müssen. Cringe. Da hab ich dann aufgegeben.“
Jonas mag Papas Musik auch nicht. Er hört da keine Instrumente raus. Er findet eher die Musik schön, die seine Tante Nina macht. Sie spielt Geige und Klavier. Und sie ist in einem richtigen Orchester und reist um die Welt. Voll cool! Und er bekommt immer so schöne Gänsehaut, wenn sie ganz traurige Lieder spielt. Sie mag traurige Lieder ganz besonders. Und er auch. Und Opa auch. Opa und Nina haben letztes Jahr Weihnachten das traurigste Lied der Welt gespielt, mit Geige und Orgel. Jonas hat es dabei die ganze Zeit geschüttelt und Jan hat dabei ständig seine eigenen Hände geknetet und in die Luft geguckt, das hat er genau gesehen! Papa hat dann anschließend gesagt, sie sollen Weihnachtslieder spielen und keine Beerdigungsmusik.
Leider kommt Nina nicht oft zu Besuch. Aber heute wird sie da sein, darauf freut er sich ganz besonders.
„Was schenkst du denn jetzt dem Opa? Du kannst ihm ja was malen.“
„Nix für ungut, aber aus dem Alter bin ich raus. Ich glaube, ich kaufe ihm einen Aufkleber für sein Auto. In der Werkstatt neben Opas Haus haben die einen Karton auf dem Tresen, wo ein paar ganz coole drin sind.“
„Was ist dein Lieblings-Meerestier?“
„Boah, sicher, die Frage hatten wir ja heute noch nicht! Axolotl. Ist doch klar.“
„Das sagst du nur, weil das meins ist. Aber was ist deins?“
„Ich hab keins. Oder warte: Du bist mein Lieblings-Meerestier, weil du genauso bist wie eins. Oder, nein, du bist wie ein U-Boot. Immer überall unterm Radar. Unter Tischen, unter Betten. Was soll der Scheiß eigentlich? Du kannst dich ruhig zeigen. So hässlich bist du nun auch wieder nicht.“ Jan wuschelt Jonas mit den Fingern durch die Haare.
„Ich find‘s gut, wenn man mich nicht sieht. Dann stört mich keiner. Und ich kriege Geheimnisse mit.“
„Welche Geheimnisse? Weißt du, wer Mamas neuer Freund ist? Sag's! Ich will das wissen. Ich hab immer noch keinen Schimmer.“
„Ne, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass du so‘n komisches Ding unterm Bett liegen hast.“
„Hä? Was meinst du?“
„So ein Zigarettending.“
„Ach so, ich bin alt genug, ich darf rauchen. Ich darf eh machen, was ich will.“
„Darfst du nicht, das darfst du erst mit 18.“
„Wer sagt das?“
„Papa hat das gesagt. Und das weiß doch jeder, das sind die Regeln.“
„Regeln sind da, um ihre Elastizität zu prüfen, oder so. Hat Opa mal gesagt und ich finde, er hat recht, Bruder.“ Jonas wischt den letzten Rest weg und wirft die vollgesogenen Küchentücher in den Mülleimer.
„Warum versteckst du es dann? Das Ding unter deinem Bett?“
„Weil ich damit keine Zigaretten rauche, sondern was anderes, du Otto. Aber das geht dich gar nichts an. Und jetzt reichts. Komm, die Milch ist halbwegs weg. Wir gehen jetzt zu Opa, vorher noch zur Werkstatt. Ich hab keinen Bock auf das Gequatsche gleich, wenn Mama und Papa wiederkommen. Zieh dich an, und dann gehen wir los.“
Jonas freut sich. Er liebt es bei Opa. Bei ihm gibt es immer Kuchen und Kakao. Und Opa ist es total egal, was seine Eltern dazu sagen. Er würde so viel Zucker essen, wie ihm passte. Weil dann spürt er wieder dieses Kribbeln im ganzen Körper. Und dann würde er noch aufs Trampolin gehen. Das einzige Trampolin im Viertel, das auch im Winter aufgebaut ist. Voller Blätter und nass. Und Opa würde nur sagen: „Ach, das trocknet wieder“.
Jonas freut sich auf heute. Er bekommt Geschenke, sieht seine Tante Nina wieder und er würde dieses Mal die Kerzen am Baum anzünden. Hatte Papa ihm letztes Jahr versprochen. Und vielleicht sagten Mama und Papa ja, dass sie es doch noch einmal miteinander versuchen. Zumindest hat er sich das am meisten gewünscht. Und Marie, Opas 16-jährige Nachbarin, sagte, dass Wünsche in Erfüllung gehen. Man müsse nur ganz fest dran glauben und genug Fantasie für Paralleluniversen haben, dann könnte eigentlich nichts schief gehen. Das mit dem Paralleluniversum hat Jonas nicht so richtig verstanden, aber das ist ja auch egal. Hauptsache sie würden wieder zu viert zusammen sein. Er wird gleich vorsichtshalber heimlich die Kerze anzünden, die er aus Jans Schublade geklaut hat und dabei ganz fest daran denken. Und vielleicht könnte er Jan überreden, sich dasselbe zu wünschen. Dann würde es bestimmt klappen.
5. Türchen: Susanne
Oh je, es wird Zeit, sie muss los. Sie muss bei den Vorbereitungen für heute Abend helfen. Am liebsten würde sie aber noch bleiben und den Streit von letzter Nacht nacharbeiten. Es tut ihr so leid, dass sie in der vergangenen Nacht so viel Zeit für Grundsatzdiskussionen verwendet haben. Sie würde gerne noch ein wenig Ruhe haben, sich ausruhen, ihre Gedanken ordnen, um den heutigen Heiligabend einigermaßen zu überstehen.
Sie versteht aber auch nicht, warum sie beide immer wieder an denselben Punkt kommen. Sie braucht einfach noch Zeit! Es ist nicht einfach, sich als Paar zu zeigen, wenn Kinder im Spiel sind. Sie möchte sich schon einigermaßen sicher sein, bevor sie die Familie involviert. Und ihre besondere Art der Beziehung macht es nochmal schwieriger. Was sollen die anderen von ihnen denken? Was sollen ihre Kinder von ihnen denken? Jan fänd es wahrscheinlich sogar ok. Er ist so viel empathischer, als alle denken. Vermutlich hat er eh schon herausgefunden, mit wem sie sich neuerdings trifft, sagt aber nichts. Sie würde ihm das zutrauen. Jonas fänd es vermutlich auch nicht so schlimm. Er ist ein Sternengucker, verträumt, lebt in seiner eigenen Welt. Sie glaubt nicht, dass es ihn großartig belasten würde, solange ihr Verhältnis zu seinem Vater gut ist.
Am meisten Sorgen macht sie sich eigentlich über das Urteil von Christian. Auch wenn er ihr Ex ist, so teilen sie sich doch die Erziehung der Jungs. Er ist ein toller Vater und sie haben es weitestgehend geschafft, ihre Trennung damals sauber über die Bühne zu bringen und das gemeinsame Sorgerecht für alle gut zu gestalten. Doch wenn er von dieser Verbindung hört, wird es ihn verstören, dessen ist sie sich sicher. Sie kann absolut nicht einschätzen, wie er reagieren würde. Und an Heiligabend die Katze aus dem Sack zu lassen – das fänd sie einfach viel zu krass.
Sie hofft einfach, dass sie es heute morgen geschafft hat, die Wogen zu glätten, so dass sie ein harmonisches Weihnachten verbringen können. Sie hat versprochen, dass es nicht mehr lange dauert und die Geheimniskrämerei bald ein Ende hat. Herrje, sie wird allen Mut dafür zusammennehmen müssen.
Aber jetzt muss sie sich erstmal konzentrieren. Christian wird das Fleisch abholen. Wie sie ihn kennt, wird er noch eine Dosis Koffein bei seinem Vater tanken, bevor er zurückkommt. Jan hat geschrieben, dass er ebenfalls mit Jonas zu Opa fährt. Also hat sie Raum und Zeit für den ganzen Deko- und Schnibbelkram. Sie wird sich schöne Musik anmachen und los geht‘s.
Ach, Jan. Ihr wunderbarer, wütender und trauriger Sohn. 16 Jahre alt, manchmal wie Methusalem und dann wieder doch ein typischer Jugendlicher. Was sollen sie bloß mit ihm machen? Sie finden kaum Zugang zu ihm. Sie hat tatsächlich schon überlegt, ob sie mal allein mit ihm einen Tag ans Meer fahren soll. Oder ein Wochenende. Er liebt das Meer, so wie sie. Als er klein war, haben sie stundenlang an der Wasserkante gesessen, Wasserburgen gebaut oder einfach nur den Wellen zugeschaut. Jedes Jahr im Sommer will er nichts weiter, als ans Meer. Am liebsten mit dem Bus, lieber als mit dem Auto, niemals mit dem Flugzeug. Er macht sich furchtbare Sorgen um die Erde. Manchmal glaubt sie, dass ihm die Nachrichten den Verstand rauben. Dass er alles Elend aufnimmt und nicht genug Kraft hat, sich dagegen zu stemmen.
Ob sie ihm einfach noch spontan einen Gutschein basteln soll? „Dein Traum wird wahr! Gutschein über einen Tag am Meer mit deiner nervigen Mutter. Du entscheidest über Zeit, Ort, Transport- und Lebensmittel“.
Würde er sich überhaupt darüber freuen? Worüber würden sie wohl reden? Würden sie überhaupt Gesprächsthemen haben? Oder wäre das alles einfach nur eine peinliche Angelegenheit? Ach Quatsch, Augen zu und durch. Einfach machen. Wenn er absolut nicht will, wird er ihr das schon sagen. Sie besorgt auf dem Weg noch schnell eine Karte und schenkt ihm dann heute Abend diesen Gutschein. Ihr gefällt dieser Gedanke. Ihre Laune hebt sich schlagartig. Außerdem gefällt ihr, dass sie nun gut abgelenkt ist von den ganzen Diskussionen mit ihrer neuen Liebe. So langsam kommt Weihnachtsstimmung auf.
6. Türchen: Opa Karl
Meine Güte, sind die Straßen voll. Wieso um Himmels Willen sind an Heiligabend so viele Menschen unterwegs? Und wie die alle fahren! Schlimmer als er selbst. Gerade hat er noch Susanne gesehen, wie sie in den örtlichen Schreibwarenladen ging. Vermutlich noch ein Last-Minute-Geschenk. Sie ist aber ganz schön spät dran, da wird Christian ja wieder am Rad drehen. Jetzt aber erstmal schnell nach Hause.
Wenn er die Einkäufe verräumt hat, muss er wirklich kurz zu seiner Nachbarin Anna. Es würde ihn einfach beruhigen, wenn sie ihm sagt, was das sein kann. Als Krankenschwester hat sie bestimmt eine Idee. Er fühlt sich echt nicht gut. Hat er was Falsches gegessen? Das muss es sein, und das strahlt dann in den Brustkorb, oder so.
Oder es ist das Herz.
„Karl, wenn du mal ehrlich bist, weißt du, es ist das Herz“, sagt er zu sich selbst.
Er steht an der roten Ampel und bekommt Angst. Bitte nicht, nicht heute. Es ist Heiligabend. Das kann das Schicksal doch nicht ernst meinen. Er versucht, tief durchzuatmen. Setzt sich so gerade in den Autositz, wie es nur geht. Dreht den abgefahrenen Jazz leiser. Holt sein Spray raus und inhaliert tief. Das muss doch wirken! Beim letzten Herzinfarkt hat es sich viel drückender angefühlt. Es wird schon gut gehen. Wird es bestimmt.
Die Ampel springt auf Grün und er gibt Gas. Schnell nach Hause. Fast hätte er sie übersehen, aber da vorne laufen Jan und Jonas. Kann er hier noch anhalten und sie einsammeln? Aber sie gehen in die Autowerkstatt. Komisch. Soll ihm aber recht sein, er muss sich erstmal sammeln. Sicher kommen sie gleich zu ihm. Bis sie da sind, muss er sich beruhigt haben.
Er parkt sein Auto in der Einfahrt und bleibt noch kurz sitzen. Schließt die Augen, versucht, seinen Atem zu beruhigen. Er denkt an seine Frau, Tilda. So lange ist sie nun schon tot. Aber er redet jeden Tag mit ihr. Sie beruhigt ihn, sagt ihm, er solle tief ein- und langsam wieder ausatmen. Sie wiederholt ihre Worte: tief ein- und langsam wieder ausatmen. Nun hört er sie leise summen, die kleine Melodie, die sie immer ihren Kindern vorgesungen hat, als sie noch klein waren. Er konzentriert sich voll und ganz auf die Erinnerung an ihre Stimme, atmet. Wird ruhiger.
Tilda. Wieder ein Weihnachten ohne dich. Wieder ein Jahr, in dem die Kinder gewachsen sind. Die Enkel buchstäblich in die Höhe, Christian und Nina eher am Leben. Ein Jahr, in dem Jan tiefschwarze Haare und Schwermütigkeit für sich entdeckt hat. Ein Jahr, in dem Jonas sich immer mehr in seine Fantasiewelt zurückgezogen hat und er – Opa Karl – verstanden hat, dass er den Kleinen mit Kuchen und Kakao zum Frühstück glücklich machen kann. So einfach! Ein Jahr, in dem er seine Tochter Nina kaum zu Gesicht bekommen hat, weil sie ihre wunderbare Musik in die Welt getragen hat. Ein Jahr, in dem er Handybesitzer wurde, damit er darüber mit Nina Videodings machen kann. Viel zu kleines Gerät mit viel zu kleinen Tasten. Ein Jahr, in dem Christian sich abgerackert hat, um irgendwelchen Ansprüchen zu genügen. Von ihm hat er die nicht! Statt einfach mal seiner Nachbarin Anna ein paar Blumen zu bringen und mit ihr auszugehen. Sieht doch jeder, dass Christian Anna spitze findet.
Ach, Tilda. Er wird ganz sentimental. Aber es ist Heiligabend und sein Herz macht Sperenzchen. Da darf man das mal.
Die Häppchen warten. Er öffnet die Augen, atmet nochmal tief durch und steigt aus. Ganz langsam geht er zur Haustür. Bitte, nicht heute, denkt er noch einmal.
7. Türchen: Marie
Marie kommt gerade aus der Drogerie, wo sie noch schnell Hennafarbe für ihre Haare gekauft hat. Vielleicht lässt sie beim Färben gleich einfach die Handschuhe aus, so dass ihre Handflächen auch rot werden. Und ihre Fingernägel auch. Aber unter den Nägeln und nicht wie bei den Mädchen aus der Schule obendrauf. Das gefällt ihr. So wird sie es machen.
Auf dem Weg in ihre Stichstraße sieht sie von weitem Herrn Langner in seinem Auto. Sitzt da ganz bewegungslos und steigt nicht aus. Als sie näherkommt, schaut sie genauer ins Fenster. Er hat die Augen geschlossen. Er atmet tief ein und langsam wieder aus. Meine Güte, jetzt sind auch die alten Leute schon auf diesem Achtsamkeitstrip. Sein Gesicht sieht dabei ganz verspannt aus. Ob sie mal ans Fenster klopfen soll? Aber nachher erschreckt er sich und bekommt einen Herzinfarkt. Das will sie auch nicht. Sie geht lieber nach oben und erzählt das ihrer Mutter. Soll sie doch gleich mal bei Herrn Langner vorbeischauen.
Oben angekommen trifft sie ihre Mutter Anna in der Küche. Sie sitzt am Küchentisch, trinkt eine Tasse Tee und liest in ihrem Buch.
„Was machst du denn schon auf,“ fragt Anna.
„Das gleiche könnte ich dich fragen“, erwidert Marie. „Wolltest du nicht ganz lange schlafen heute?“
„Ich habe senile Bettflucht, ich glaube, man kann es nicht anders nennen. Ich kann einfach nicht mehr richtig ausschlafen. Und jetzt ist ja auch schon Vormittag. Und du? Heute ist Heiligabend, freust du dich?“
„Wieso sollte ich? Na ok, ich freue mich aufs Essen und darauf, dass wir drei zusammen zum Konzert auf den Marktplatz gehen. Aber ansonsten könnte Weihnachten meinetwegen auch ausfallen.“
„Ach, das ist so schade, dass der Weihnachtszauber vorbei ist. Als ihr klein wart, war das so eine magische Zeit! Auch für mich als Erwachsene.“
„Na ja, aber die Story vom Christkind hab ich dir ziemlich schnell nicht mehr abgenommen, es gab einfach zu viele Unstimmigkeiten in der Zusammenarbeit mit dem Weihnachtsmann. Und dann auch noch der Nikolaus. Das war alles sowas von verwirrend."
„Jaha. Ich wusste einfach nicht, für welche Tradition ich mich entscheiden sollte. Und dein Vater und ich waren einfach immer anderer Meinung! Was machen denn deine Zeichnungen? Deine Geschichten? Mal was Freundliches oder wieder so schrecklich deprimierend?“
„Wenn du mal genauer hinschauen und hinhören würdest, würdest du erkennen, dass da nichts Deprimierendes dran ist! Meine Figuren sind angelehnt an das menschliche Chaos! Sie haben nur das Glück, dass sie Götter und Dämonen sind und über den Dingen stehen. Sie machen nicht so viel Aufhebens um diesen ganzen emotionalen Mist. Sie spielen eher damit.“
„Ach, meine Süße, das ist mir alles zu kompliziert. Wenn ich im Krankenhaus den fünften Katheter gezogen habe, habe ich keine Fantasie mehr für solche Geschichten. Ich bin übrigens froh, dass ich dieses Jahr Weihnachten noch einmal frei haben darf. Nächstes Jahr werde ich arbeiten müssen, das haben wir schon so besprochen. Die Kollegen mit kleinen Kindern gehen dann einfach vor.“
Marie ist das nur recht. Es reicht ihr auch, dass sie immer diesen Bonus einer Familie mit alleinerziehender Mutter haben, deren Mann auf Nimmerwiedersehen verschwunden war. Oft fühlt sie sich dadurch wie eine Außenseiterin. Was sie streng genommen ja auch ist. Sie mag keine Aufmerksamkeit und ist in Gesellschaft eher zurückhaltend. Sie lebt in ihrer eigenen Fantasiewelt mit ihren Charakteren, die sie zeichnet. Eines Tages wird sie genug Geld zusammen haben, um den teuren Rechner zu kaufen und all ihre Geschichten zu animieren.
„Kannst du gleich mal bei Herrn Langner vorbeischauen? Er sitzt atmend im Auto. Tief ein, langsam aus. Augen zu. Volle Konzentration. Ich wollte ihn nicht erschrecken, aber vielleicht guckst du mal, ob alles in Ordnung ist?“
„Oh, ok. Ja, mache ich.“
Herr Langner ist übrigens einer der wenigen Menschen, die Marie neben ihrer Mutter und ihrem großen Bruder Sascha mag. Der ist echt supersüß. Er lächelt sie immer an, redet nicht zu viel, steckt ihr nur ab und zu irgendwas Frisches aus dem Garten zu. Tomaten, eine Gurke, im Sommer mal eine schöne lilafarbene Blüte, die aus dem Schnittlauch herausgewachsen ist. Als Kind hat er ihr immer Geschichten erzählt über die Tiere im Garten, die Spinnen, die Käfer, die Schmetterlinge. Sie durfte immer die Fische füttern, die in dem kleinen Teich vor sich hinvegetierten. Nur Tauben mag er nicht, die schießt er immer mit einer Steinschleuder ab. Glücklicherweise trifft er nie.
Zu ihrem 16. Geburtstag hat er ihr einen schönen Kohlestift geschenkt und einen neuen Block mit dem teuren Zeichenpapier. Er ist einfach total aufmerksam.
Mit seinem Enkel Jonas geht sie öfter mal auf sein altes Trampolin. Mit Jonas versteht sie sich auch ganz gut, obwohl er klitzeklein und erst neun Jahre alt ist. Aber seine Eltern sind auch getrennt und sind auch beide ein bisschen durchgeknallt. Das verbindet. Jonas mag Unterwasserwelten, das ist fast so gut wie Paralleluniversen. Nur sein großer Bruder Jan mit den schwarzen Haaren und dem bleichen Gesicht, der ist ihr nicht geheuer. Früher hat er sie immer geärgert. Aber als Sascha ihn mal an den Unterhosen hochgezogen hat, hat er damit aufgehört. Sie weiß, dass Jan oft die Schule schwänzt und dass er kifft. Also er „dampft“ Gras. Das sieht irgendwie voll weird aus.
Jan ist genauso alt wie sie, geht aber auf eine andere Schule. Sympathisch an ihm ist, dass er nicht viel redet, aber wenn, dann flucht er irgendwie die ganze Zeit. Schlimmer Wortschatz. Sein Opa sagte letztens, Jan sei ein ganz feiner Kerl, er wüsste es nur selber noch nicht. Das fand Marie irgendwie sehr slay.
Sie würde später mal bei Herrn Langner klingeln und ihm ihr Weihnachtsgeschenk bringen. Sie hat ihm einen Aufkleber in der Nachbarwerkstatt gekauft. Darauf steht „Nett hier. Aber waren Sie schon mal in Baden-Württemberg?“ Ist bestimmt sein Humor.
„Ich färbe jetzt meine Haare, Mama. Weißt du übrigens, wann Sascha nach Hause kommt?”
„Ach, er ist noch gar nicht wieder da?“
Das war typisch für ihre Mutter. Hat 10 Jahre lang den Laden hier allein geschmissen, aber so langsam geht ihr die Puste aus. Sascha hat eine neue Freundin. Doch Marie darf nicht wissen, wer es ist. Eigentlich haben Sascha und sie keine Geheimnisse voreinander. Es ärgert sie, dass sie nicht weiß, wer seine neue Flamme ist. Sie beschließt, es heute noch herauszufinden.
8. Türchen: Sascha
Sascha fährt auf Maries altem Hollandrad durch die Stadt nach Hause. Was für ein klapperiges Ding. Aber sein eigenes ist in Den Haag, wo er an der Kunsthochschule Klassische Gitarre studiert. Seit gestern Mittag ist er zuhause, für die Weihnachtsfeiertage.
Während er durch die Straßen fährt, muss er die ganze Zeit grinsen, die Leute schauen ihn schon irritiert an. Es ist eiskalt, aber die Sonne scheint und er fühlt sich einfach nur gut. Er freut sich richtig auf heute. Gleich noch die für sie traditionellen Heiligabend-Schaschlick-Spieße mit seiner Mutter und Marie vorbereiten und dabei gemeinsam Musik hören, jeder darf sich was aussuchen. Das ist eigentlich immer das Beste, zu hören, was die beiden so mögen. Manchmal ist es auch echt schräg und lustig. Er freut sich sehr auf die Zeit mit seiner Mutter und seiner Schwester, er hätte nicht gedacht, dass er sie mal so vermissen würde. Liegt vermutlich an der Entfernung.
Er denkt an gestern Abend. Seine Freundin und er sind einfach mit dem Bus in die nächste Stadt gefahren und dort in irgendeinen Club. Sie konnten ungestört sie selbst sein, ohne das Gefühl zu haben „erwischt“ zu werden. Das hat so gutgetan! In der Nacht haben sie sich dann ihre Weihnachtsgeschenke überreicht. Nur eine Kleinigkeit, sie beide standen nicht so auf diesen Konsumquatsch. Er war echt aufgeregt, wusste nicht, ob sie es doof finden würde. Er hatte kleine Steine in zwei Lederarmbänder eingearbeitet. Die winzigen Steine hatten sie gesammelt, als sie zum ersten Mal ein ganzes Wochenende lang in Scheveningen verbracht haben. Für jeden kleinen Stein hatten sie einander damals eine Geschichte von sich erzählt. Er hatte sie behalten, in einer kleinen Dose aufbewahrt und für sie daraus ein braunes und für sich selbst ein schwarzes Armband gemacht. Heute Nacht hat er ihr dann ihres geschenkt. Sie erinnerte sich sofort und war total gerührt. Das hat ihn so gefreut. Er könnte so platzen vor Liebe für diese Frau.
Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie endlich auch zuhause offen mit ihrer Beziehung umgehen könnten. Das hat sie ihm heute Nacht versprochen. Nur nicht heute, an Heiligabend. Sie steht nicht so gerne im Mittelpunkt, macht nicht gern viel Aufhebens um sich. Er kann sie verstehen. Aber er freut sich jetzt schon, sie heute Nachmittag wiederzusehen. Er vermutet ja, dass es dann alle bemerken werden. Bemerken müssen! Aber er wird sich an ihre Abmachung halten und sich zurücknehmen.
Als er in ihre Stichstraße einfährt, sieht er Herrn Langner Richtung Haustür laufen. Er läuft ein wenig ungelenk und langsam.
„Hallo Herr Langner“, ruft er ihm zu. „Alles klar bei Ihnen? Kann ich was tragen oder so?“
„Sascha, mein Junge! Da bist du ja wieder. Wie geht es dir? Was machen die Holländer? Bringen sie dir auch ordentlich das Gitarrenspielen bei? Ich frage mich ja, was sie dir da überhaupt noch zeigen wollen,“ Herr Langner hält sich am Geländer fest.
„Und nenn mich doch Karl, wie oft soll ich das noch sagen, Junge. Komm, trau dich!“
Sascha wird es vermutlich bald schon etwas leichter fallen, Herrn Langner zu duzen, aber im Moment ist es noch komisch für ihn.
„Bist du so nett und gehst nochmal zum Auto, ich habe vergessen, meine Einkäufe rauszuholen. Mir gehts heut nicht besonders. Die Kälte. Und ich hab wohl was Falsches gegessen.“
„Ja klar, mach ich. Soll ich gleich mal meine Mutter rüberschicken? Sie hat ja einen guten Blick für sowas. Vielleicht hat sie was gegen Übelkeit oder so.“ Herr Langner sieht wirklich nicht berauschend aus.
„Ich gehe gleich eh rüber. Hab ihr ein paar Blumen gekauft. Weil ja Weihnachten ist.“
Herr Langner, Karl, ist eine Seele von Mensch. Von wegen Weihnachten. Er bringt Saschas Mutter alle paar Wochen einen Strauß Blumen vom Markt vorbei. Einfach, weil er weiß, dass sie sich freut. Anna war damals oft bei den Langners, als Karls Frau Tilda so krank war. Sie hatte regelmäßig nach ihnen gesehen. Manchmal waren Marie und er auch dabei. Zu der Zeit entdeckte Sascha Karls Musikzimmer. Als Frau Langner dann gestorben war, brachte Karl ihm das Gitarrenspielen bei.
Das Musikzimmer ist auch heute noch ein besonderer Ort für ihn. Darin steht eine alte „Orgel“, wie Karl sie nennt, ein dreistöckiges Keyboard mit allem Drum und Dran. Er hat mehrere Geigen, ein Cello, einen Steinberger E-Bass, verschiedene Gitarren, unter anderem eine kleine Martin und zwei Fender-Gitarren, und zwei Saxophone. Karl ist leidenschaftlicher Hobbymusiker und war früher als Straßenmusiker und Tanztee-Musiker unterwegs gewesen. Außerdem war er bis vor kurzem noch Saxophonist in einer bekannten Big Band. Die Gitarrenstunden bei ihm waren immer Saschas Highlight. Oft war er drei Mal oder noch öfter pro Woche bei Karl und dieser hat ihn niemals weggeschickt. Damals lernte er auch dessen Tochter Nina kennen. Sie war gerade frisch professionelle Musikerin. Gitarre, Geige. Zum Weinen schön. Er war sofort unsterblich in sie verliebt. Damals war er 14, sie 28.
Sascha stellt die Einkäufe in die Küche.
„Danke, Sascha. Komm die Tage mal rüber und spiel mir was vor. Hab schon gehört, sind richtig komplizierte Sachen, die du da machst. Bin gespannt. Bin stolz auf dich, mein Junge. Du machst das richtig.“
Sascha schaut verlegen zu Boden.
„Ich hab ein neues Stück, das spiel ich heute Abend zu Hause vor. Soll ich dir das gleich schonmal zeigen?“
„Aber sicher, komm rum! Ich muss nur noch die Häppchen machen. Aber ich setze eh eine Kanne Kaffee auf. Christian kommt bestimmt gleich auf eine Tasse, das hat sein alter Vater im Urin. Und Jan und Jonas lungern auch hier irgendwo rum. Die kommen sicher auch. Wenn dich das nicht stört. Eventuell kommt auch Nina noch vor dem Konzert auf dem Marktplatz hierher. Sie ist über Weihnachten da. Dann siehst du sie auch mal wieder.“ Wieder schaut Sascha verlegen zu Boden.
„Ok, cool! Dann bis gleich.“
Zügig läuft er rüber zur Wohnung seiner Mutter. Er muss noch das Highlight des heutigen Heiligabends einpacken: Einen Laptop mit einer riesigen Grafikkarte für Marie. Anna und er haben zusammengeschmissen. Er hat ein Jahr lang einen Teil seiner Gage aus den Jazz-Clubs zurückgelegt, um Marie diesen Wunsch zu erfüllen. Er findet, es wird Zeit, dass Marie endlich ihre Figuren animieren kann. Er selbst hat früher mehrere teure Gitarren bekommen, jetzt ist sie mal dran. Sie wird Augen machen. Darauf freut er sich am meisten! Und dann dauert es auch nicht mehr lange, und er kann ihr endlich verraten, mit wem er zusammen ist. Sie wird eh nicht lockerlassen und ihn mit Fragen löchern. Er muss schon wieder grinsen. Ach, heute ist ein guter Tag!
9. Türchen: Anna
Anna ist hundemüde. Nicht nur, dass sie nicht ausschlafen konnte, sie konnte überhaupt nicht richtig schlafen. Und das nun schon seit Wochen. Sie findet, mit 44 ist sie noch zu jung für derartige Schlafstörungen. Heute Nacht, als sie schlaflos dalag, überlegte sie, was im neuen Jahr alles passieren könnte. Sie mag den Jahreswechsel nicht. Das Jahr steht dann immer so groß und breit vor ihr. Voller Erwartungen und Ansprüche. Sie ist auch nicht gut darin, Pläne und gute Vorsätze zu machen. Die haben bei ihr sowieso nur eine Halbwertszeit von ein paar Tagen, höchstens Wochen. Trotzdem hat sie heute Nacht überlegt, was gute Vorsätze für sie sein könnten. Statt Schäfchen zählen, sozusagen.
Na gut, sie möchte weiterhin regelmäßig schwimmen gehen, vielleicht sogar zwei Mal pro Woche, statt nur ein Mal. Sie möchte den Keller ausmisten. Mindestens ein Mal im Monat Sascha besuchen. Und sie möchte versuchen, Maries Geschichten besser zu verstehen. Wenn sie sie jetzt bald animieren kann, fällt ihr das vielleicht leichter. Sie möchte der Stationsärztin sagen, dass sie eine dämliche Kuh ist, das allerdings mit feineren Worten. Sie möchte mehr Zeit für die Patienten haben und dafür das Gesundheitswesen umkrempeln. Ha! Das wird die leichteste Übung. Tja, und dann möchte sie gerne mal wieder jemanden kennenlernen. Vielleicht muss sie auch mal das tindern anfangen. Denn derjenige, den sie gut findet, ist verbotenes Land. Der Ex ihrer besten Freundin Susanne. Auch wenn Susanne und sie erst nach deren Trennung so richtig gute Freundinnen geworden waren, geht das leider gar nicht. Er selbst macht auch keine Anstalten. Also, gar nicht lange drüber nachdenken. Aber wie schade.
„Hi Mama“, Sascha steht in der Tür.
„Sascha! Da bist du ja. Wo warst du denn? Ich hab die ganze Zeit gedacht, du wärst zu Hause.“
„Ich war unterwegs. Hast du irgendwo Geschenkpapier? Ist Marie in der Nähe?“ flüstert er.
„Das hab ich eben in dein Zimmer gelegt. Ich wusste nicht, in welcher Tasche du das Laptop hast, sonst hätte ich das schonmal eingepackt. Wie aufregend, oder? Ich bin so auf Maries Gesicht heute Abend gespannt! Sie ist im Bad und färbt sich gerade die Haare.“
„Kannst du gleich mal kurz bei Herrn Langner vorbeischauen? Ihm gehts wohl nicht gut, was Falsches gegessen, oder so. Sieht auch nicht berauschend aus. Er wollte wohl auch kurz hierher kommen, aber vielleicht gehst du trotzdem mal eben rüber? Sein Sohn kommt auch gleich“, zwinkert Sascha ihr zu.
Vor den Kindern kann man aber auch nichts geheim halten.
Jetzt macht sie sich doch Sorgen. Karl hat ein schwaches Herz. Er hatte schon einmal einen Herzinfarkt und es sitzen bereits zwei Stents. Sein Blutdruck ist nicht der Beste und seine Essgewohnheiten passen auch nicht gerade zu einem Herzkranken. Aber er ist ein Genussmensch, wie er sagt. Er liebt sein eher fettiges Essen und sein Feierabendbier. Sie hatte mal mit seinem Sohn Christian über ihn gesprochen, aber der sagte nur, sein Vater sei ein Freigeist, ein sturer Bock und seit langem erwachsen und als ob man ihm irgendwas sagen könnte. Dabei hatte er ganz gequält geguckt.
Es ist tatsächlich so. Karl nimmt den Tod in Kauf. Er hat keine Angst davor – so scheint es zumindest. Dann wäre er bei seiner Frau Tilda. Aber mit dem Sterben sollte er sich gefälligst noch Zeit lassen. Sie greift nach ihrem Schlüssel und macht sich auf den Weg ins Nachbarhaus.
Vor der Tür begegnet sie Christian. War ja klar.
„Hi Anna“, sagt er. Seine Haare sind durcheinander wie immer. Wie schön!
„Hi Christian.“ Sie stehen voreinander und sagen nichts weiter. Na toll.
„Ich möchte grad zu meinem Vater. Und du?“
„Ich auch. Meine beiden Kinder haben unabhängig voneinander gesagt, ich solle mal nach ihm sehen. Ihm gehts wohl nicht so gut. Vielleicht was Falsches gegessen.“
„Oh, echt? Na, wundern würd‘s mich nicht. Ist nett, dass du das machst.“ Christian guckt ihr in die Augen und schaut dann schnell weg.
„Und? Wie geht es so? Susanne sagte, du würdest ganz gut verkaufen?“ Was für eine bescheuerte Frage.
„Ach ja, geht so. Nein, ich bin zufrieden. Echtholz und Handarbeit werden ja glücklicherweise wieder geschätzt. Und du? Was macht der Stationsdrachen?“
„Sie speit immer noch Feuer. Am liebsten würde ich ihren Versetzungsantrag stellen. Vielleicht mit einer gefälschten Unterschrift, oder so. Na ja, müssen wir halt alle durch.“
Da ist es schon wieder. Sie reden über Arbeit. Worüber auch sonst. Sie fühlt sich so unkreativ! Sie muss dringend mehr schlafen.
Christian schließt die Tür auf und drinnen riecht es nach Kaffee.
„Hey, mein Sohn. Ich hab Kaffee gekocht. Ich weiß nur nicht, ob es der richtige oder der entkoffeinierte ist. Die Packungen sehen so gleich aus“, Karl lacht sein heiseres Lachen.
„Haha, sehr witzig. Wie geht es dir? Hast du wieder eine Mettwurst zuviel gegessen? Anna ist da. Du hast wohl schon Marie und Sascha verschreckt.“
„Anna! Wie schön, dass du da bist. Es tut mir leid, ich wollte keinen erschrecken. Ich bin nur nicht gut zurecht heute. Ich wollte gleich zu dir kommen. Meinst du ich kann was an meinen Medikamenten drehen? Ich glaube, ich bin nicht mehr richtig eingestellt. Hab mit der ganzen Weihnachtsschokolade auch noch zwei Kilo zugenommen, das macht bestimmt was an der Dosierung, oder?“ Karl setzt sich langsam auf einen Küchenstuhl.
„Guten Morgen Karl. Alles gut, meine Kinder wollten nur auf Nummer Sicher gehen. Hast du denn schon den Blutdruck gemessen? Ist das Gerät im Wohnzimmer?“
„Ja, genau. Kannst du es holen? Ich muss mal kurz sitzen.“ Sie hört, wie Karl Christian zuflüstert, er solle den Blumenstrauß aus dem Wintergarten holen.
Sie muss grinsen. Er hat wieder einen Strauß für sie besorgt. Manchmal überkommt sie ein großer Schwall Zuneigung für diesen alten Mann. Wenn er wüsste, wie wichtig er auch für sie und ihre Kinder ist.
Christian drückt sich im Türrahmen an ihr vorbei und kurz stehen sie sich ganz nah gegenüber.
„Entschuldigung,“ murmelt er leise und rauscht zum Wintergarten.
Sie sucht im Wohnzimmer nach dem Blutdruckgerät. Überall liegen Teller mit Plätzchen, Schokolade und Süßigkeiten herum. Die Fenster sind mit Papiersternen geschmückt, auf der Fensterbank stehen zwei Christsterne und Tannengrün. Eine für ihren Geschmack etwas zu bunte Lichterkette ziert die große Grünpflanze in der Ecke und vor dem Bild von Tilda flackert eine Kerze. Der Kamin knistert vor sich hin. Im Radio läuft jazzige Weihnachtsmusik.
Sie bleibt kurz stehen und bewegt sich nicht. Da ist er. Ein weihnachtlicher Moment. Sie schaut rüber zu Karl, der am Küchentisch sitzt und versucht, eine Pumpernickelpackung zu öffnen. Und sie schaut in die andere Richtung, in den Wintergarten, wo Christian einen wunderschönen Blumenstrauß aus einer Vase holt. Ein Blumenstrauß, der für sie bestimmt ist. Sie atmet einmal tief ein und nimmt sich vor, diesen Moment zu konservieren.
Dann schaut sie sich im Zimmer um. Wo hat Karl das Blutdruckmessgerät versteckt?
10. Türchen: Jan
Hier riecht es immer voll gut! Sie betreten den Empfangsbereich der Autowerkstatt. Ein bisschen nach Kaffee, vor allem aber nach Öl und Reifen, oder so. Muffig, aber gut muffig.
Es ist keiner da. Müssen sie halt warten. Jonas hängt schon wieder vor‘m Aquarium. War ja klar. Wie kann man nur so auf Fische abfahren? Ist ihm echt ein Rätsel.
Auf dem Tresen steht der Karton mit den Aufklebern. Er geht schonmal hin und stöbert ein bisschen. Die Qual der Wahl. Opa hat schon einige Aufkleber hinten drauf. Alles mögliche. Voll die Spießer-Dinger, aber auch gute wie „fck afd“ und so.
„Darfst du da einfach drin rumkramen?“ fragt Jonas.
„Meine Güte, Bruder, was hast du immer mit dem Dürfen? Ja klar darf ich das. Ich will doch nix klauen, ich guck schonmal und kauf das doch gleich. Als ob Martin was dagegen hätte.“
„Hey, ihr zwei. Na, wie geht’s?“ Der Chef der Werkstatt, Martin, kommt und begutachtet beide.
„Last-Minute-Weihnachtsgeschenk? Lasst mich raten: für euren Opa? Ihr habt Glück, dass ich hier bin, eigentlich hab ich zu. Euer Opa hat übrigens seinen Kalender vergessen, den könnt ihr gleich mitnehmen. Passt das?“
Jan findet Martin irgendwie cool. Der ist noch eher jung, jünger als sein Vater. Der hat neben seiner Werkstatt ein zweite Werkstatt, wo er so ganz alte Autos restauriert oder alte, meistens amerikanische Autos nach den Wünschen der Besitzer umbaut. Custom Cars. Das hat er ihm mal erklärt. Findet er ziemlich cool. Einziges Problem: Dreckschleudern. Da kommt sein Hirn nicht mit. Soll er das jetzt geil finden, oder nicht?
Martin drückt ihm einen Kalender in die Hand. Das ist eine Art Pin-up-Kalender, aber mit den Mitarbeitern der Werkstatt. Die stehen im Bärenkostüm, anderen Verkleidungen oder auch in Badehose, Socken und Vans vor den schönen restaurierten Autos am See oder auf dem Feld oder so, und posen. Voll cringe aber irgendwie auch cool. Für wen will Opa den denn haben? Vielleicht für Papa, könnte passen.
„Ich würd gern einen Aufkleber für Opas Auto kaufen. Sind das alle hier drin?“
„Ja. Findest du keinen? Wie wärs denn mit ‚Punk’s not dead‘? Passt doch irgendwie zu deinem Opa. Hab noch nie einen gesehen, der son Verkehrsrowdy ist. Oder der mit Baden-Württemberg, der geht grad auch ganz gut. "
Den Baden-Württemberg-Aufkleber findet er irgendwie voll weird. Was soll das? Wer will denn schon in den Schwarzwald? Oder Stuttgart? Nur Treppen rauf, Treppen runter, voll anstrengend. Ok, ok, Stuttgart ist ganz nett, aber sonst? Nur Gegend, genauso lame wie hier. Er versteht die Ironie nicht. ‚Punk’s not dead‘ gefällt ihm eigentlich ganz gut. Der kommt jetzt mit.
„Im Aquarium sind nur zwei Fische drin. Ein Guppy und ein Zebrabärbling. Wo sind denn die anderen?“ fragt Jonas.
„Ach, so heißen die eigentlich? Wir nennen die nur Bonnie und Clyde. Wir hatten noch viel mehr und eines Tages waren sie alle tot. Die beiden sind die einzigen Überlebenden, das hat uns misstrauisch gemacht. Deshalb heißen die jetzt so,“ sagt Martin.
„Aber so alleine ist doch voll doof! Dann war auch irgendwas mit dem Wasser oder mit dem Futter!“ Jonas wird richtig laut.
Gut, Bruder, denkt Jan, werd ruhig laut! Ich find‘s auch scheiße, dass die hier so rumdümpeln müssen.
„Na ja, da kümmere ich mich nach Weihnachten drum. Kannst mir ja helfen, wenn du magst. So, was darf‘s denn sein, die Herren? Der Punk-Aufkleber? Gute Wahl. Schenk ich euch. Bestellt dem Opa mal schöne Grüße. Und frohe Weihnachten!“
Wie cool der Martin ist, einfach geschenkt! Voll der Bre.
Jetzt schnell zum Opa. Dann da ne Runde auf dem Sofa chillen. Vielleicht hat Opa grad Kuchen, das wär jetzt so geil! Und hoffentlich ist niemand sonst da.
„Jahaan?“ Oh oh, wenn Jonas so loslegt, wird’s ernst.
„Was ihist?“
„Könntest du dir vielleicht auch ganz feste zu Weihnachten wünschen, dass Mama und Papa wieder zusammenkommen? Bitte? Es ist mein größter Wunsch und ich hab’s mir vorsichtshalber vom Christkind, vom Nikolaus und vom Weihnachtsmann gewünscht. Lach nicht, ich weiß, dass es die alle nicht gibt! Aber trotzdem! Komm schon! Viel besser wäre, wenn wir beide uns das wünschen. Bitte!“
„Hey, du kleiner Scheißer. Das wird nicht passieren. Die beiden sind getrennt und werden es auch bleiben. Außerdem: Wenn sie wieder zusammenkommen, dann streiten sie sich irgendwann wieder. Und glaub mir, Bruder, das willst du nicht erleben. Ich hab das damals alles mitgekriegt. Ist voll scheiße. So, wie es jetzt ist, ist es besser, glaub mir.“
„Aber ich will nicht immer hin- und her. Ich will immer in demselben Bett schlafen. Ich will, dass beide abends da sind und dass sie sich in den Arm nehmen!“
„Ja, ich weiß. Komm her, du Otto.“ Jan nimmt seinen kleinen Bruder in den Arm. Was für eine Scheiße. Das ist das Alter. Jonas steht ganz steif da, aber dann drückt Jan ihn noch fester an sich und schüttelt sich und Jonas hält sich an ihm fest.
„Komm schon, du Nervensäge. Wir helfen jetzt dem Opa mit seinen Häppchen. Und heute Abend sind wir doch alle zusammen. Und Nina wird wieder son beschissen trauriges Lied auf ihrer Geige fiedeln, da steht ihr doch so drauf, der Opa und du. Also, es gibt Grund zur Freude! Und hey! Lego! Kuscheltiere! Meeres-Tiere! Schokolade!“ Jan wuschelt Jonas durch die Haare.
„Ich verzichte auf alles, wenn sie nur wieder zusammenkommen!“
„Träum weiter. Los jetzt, ich will noch ne Runde abhängen. Vielleicht hat Opa wieder den geilen Kuchen da.“
„Es heißt übrigens Canapés,“ sagt sein kleiner Klugscheißerbruder.
„Ich weiß, aber beim Opa sind die Canapés Häppchen. Und das ist auch gut so.“
Als sie in die Stichstraße einbiegen, sehen sie schon von Weitem das Auto ihres Vaters. Au Mann. Nirgendwo hat man seine Ruhe.
11. Türchen: Christian
Ok, jetzt macht er sich ernsthaft Sorgen. Einen kurzen Moment hat er auch Angst.
Anna hat den Blutdruck gemessen und er ist komplett durch die Decke gegangen. Als ob dieses Ergebnis auch seinen Vater zusätzlich nervös macht, versucht dieser noch tiefer Luft zu holen. Er sieht furchtbar aus!
„Wie lange fühlst du dich schon so, Karl?“ fragt Anna.
„Ach, ich fühl mich doch immer mal ein bisschen schlapp. Und das mit der Luftnot und dem Druck auf der Brust kenne ich ja schon. Ich hab vielleicht die Blutdrucktabletten vergessen, wer weiß. Ich bin da nicht immer so. Aber jetzt gerade fühl ich mich echt nicht so gut.“
„Ich fahre dich jetzt ins Krankenhaus, Karl. Und du brauchst gar nicht lamentieren. Ich möchte, dass dich jemand untersucht.“ Anna streicht Karl über den Arm.
„Ach was! Heute ist Heiligabend! Die haben da Besseres zu tun, als sich um einen alten Mann wie mich mit ein bisschen Luftnot zu kümmern. Und ich bin für die Häppchen zuständig. Jan und Jonas kommen gleich, die hab ich eben gesehen. Ich brauch nur ein bisschen Ruhe. Ich hau mich mal hin.“
"Komm schon, Karl. Das ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Wir können später natürlich auch den Krankenwagen rufen, wenn es dir schlechter geht und dir das lieber ist." Anna schaut Karl mit strenger Miene an.
„Ich fahre ihn schon, Anna,“ Christians Gedanken rasen. Er versucht, sich zu konzentrieren.
„Ja, leg dich kurz hin, ich versuche Jan zu erreichen. Und Susanne, die soll mal kommen und die beiden nach Hause holen. Dann bring ich dich ins Krankenhaus.“
Anna schaut ihn ernst an. Diesen Blick kennt er nicht und ihm ist klar, dass es gerade kein Spaß ist.
Er versucht Jan zu erreichen. Mailbox.
Er ruft Susanne an. Mailbox. Das darf doch nicht wahr sein! Ist sie immer noch nicht bei ihm zu Hause?
Er ruft seine Schwester Nina an. Sie ist wohl schon seit gestern im Lande und wohnt im Hotel in der Nähe. Soll sie doch bitte hierherkommen und auf Jan und Jonas warten. Mailbox.
Was ist denn heute los?
Es klingelt. Jan und Jonas stehen in der Tür. Gott sei Dank.
„Kommt rein, ihr zwei.“ Christian nimmt beide kurz in den Arm, weswegen beide ihn verwundert anschauen.
„Ok, Leute, dem Opa gehts nicht so gut. Ich fahr ihn jetzt ins Krankenhaus. Das ist nichts Schlimmes! Wir wollen nur auf Nummer Sicher gehen. Anna sagt, es wär ganz cool, wenn ein Arzt mal kurz guckt, ein Medikament verabreicht und dann gehts auch schon wieder, ok?“ Christian und seine Jungs stehen noch im Flur, die beiden schauen ihn aus großen Augen an.
Sein Vater ruft aus der Küche: „Mensch Christian, übertreib nicht so. Kommt mal her, Jungs, ich hab da was für euch.“
Christians Gedanken rotieren. Was macht er jetzt mit den beiden, wenn er ins Krankenhaus fährt? Wenn zu Hause auch niemand ist? Er kann die beiden doch nicht hier alleine lassen.
„Jan, ist Mama schon zu hause? Als ihr gegangen seid, war sie da schon zu Hause zum Vorbereiten?“
„Ne, da war keiner.“ Jan sieht ihn verwirrt an.
„Anna, ich erreiche weder Susanne noch Nina. Könntest du nach Jan und Jonas schauen?“
Anna greift nach ihrem Haustürschlüssel.
„Ich hole Sascha rüber. Ich komm lieber mit dir und Karl mit. Mich kennen die im Krankenhaus, ich versuche unterwegs herauszufinden, ob meine befreundete Ärztin heute Dienst hat. Sascha wird hierherkommen. Ich sage ihm, er soll weiter versuchen, Susanne zu erreichen.“ Er widersteht nur knapp dem Impuls, sie in den Arm zu nehmen.
„Und, Christian?“ Anna schaut ihn an.
„Ja?“ Sie stehen sich im Flur gegenüber.
„Ganz ruhig, ok? Bleib ruhig. Dein Vater hatte jetzt gerade keinen Herzinfarkt, das sähe anders aus. Aber es kann sein, dass sich einer anbahnt. Wir sorgen jetzt dafür, dass er untersucht wird und vielleicht zur Überwachung im Krankenhaus bleibt. Wir sorgen für ihn. Du bleibst ruhig und erschreckst deine Kinder nicht, ok? Das überträgt sich auch auf Karl. Wir machen das jetzt ruhig und bedacht, ok? Ich komm gleich wieder.“ Anna verschwindet aus der Haustür und läuft zügig rüber zu ihrem Mehrfamilienhaus.
Christian merkt, wie sich alles fokussiert. Heiligabend, all die Vorbereitungen, der Ärger über Susanne – mit einem Wisch nicht mehr wichtig. Er schaut zu seinem Vater, der aufgestanden ist und mit langsamen Schritten zu seinen Einkäufen läuft. Er holt eine Tüte mit schwarzen Kugeln raus und einen riesigen pinken Lutscher.
„Ich war in Holland gerade. Guckt mal, das habe ich da gefunden.“ Sein Vater überreicht Jan und Jonas die Tüte und den Lutscher und lässt sich dann wieder auf seinen Stuhl fallen. Jonas lächelt seinen Opa an und nimmt den riesigen Lutscher entgegen.
Jan hingegen schaut besorgt zu Christian rüber. Christian versucht ein zuversichtliches Lächeln.
Er erinnert sich noch gut an den letzten Herzinfarkt. Sein Vater sollte eigentlich am Arm operiert werden und hat quasi auf dem OP-Tisch einen Herzinfarkt bekommen. Im Krankenhaus sagten sie, dass er wirklich Glück gehabt hätte. Damals ist für Christian die Welt ins Wanken geraten. Sein Vater und Herzinfarkt? Dieser Koloss, diese sichere Bank, dieser alleskönnende, herzensgute Mensch sollte ernsthaft in Gefahr geraten sein? Zum ersten Mal wurde ihm klar, dass auch sein Vater verwundbar war und es jederzeit auch mit ihm vorbei sein könnte. Wie für sie alle. Seitdem fährt er bei jeder Gelegenheit auf einen Kaffee zu ihm. An jedem Sonntag in den Wochen, wenn die Jungs bei ihm sind, frühstücken sie zusammen mit Karl bei Christian zu Hause. Christian hatte in der letzten Zeit den Eindruck, dass alles ok ist bei seinem Vater, dass er eigentlich ganz fit ist.
„Papa, was ist mit Opa? Ich möchte gerne mitkommen,“ Jan steht vor ihm und redet leise.
„Jan, ich weiß es nicht. Wir wollen nur nicht, dass es Opa noch schlechter geht und fahren deshalb ins Krankenhaus. Auch nur, weil die Ärzte zu haben. Mach dir keine Sorgen, Anna weiß das schon einzuschätzen. Bitte tu mir den Gefallen, und bleib mit Jonas hier. Sascha kommt gleich rüber und bleibt bei euch. Versuche du doch auch, deine Mutter zu erreichen, so dass sie euch abholt. Kannst du das machen? Ich glaube, es wäre dem Opa nicht recht, wenn wir so ein Riesending draus machen. Verstehst du?“ Er legt den Arm um seinen Sohn. Ein Reflex. Und wie fühlt sich das komisch an! Wann hat er das letzte Mal seinen Sohn in den Arm genommen?
Jan zuckt nicht zurück, sondern lehnt sich kurz an ihn.
„Ok, ich bleibt mit Jonas hier. Du darfst Opa aber unterwegs nicht weiter aufregen. Sag am besten einfach nichts,“ Jan schaut Christian nicht in die Augen, aber er drückt sich noch einmal kurz an ihn, bevor er zurück zum Küchentisch geht. Jan hat kein einziges Mal geflucht.
Es klingelt und Anna steht mit Sascha in der Tür.
„Kann losgehen,“ sagt sie.
„Karl, komm, wir fahren mal eben. Vielleicht sind wir heute Abend alle wie geplant unter unseren Weihnachtsbäumen. Davon gehen wir jetzt mal aus.“
Sie nickt Christian zu, begrüßt kurz Jan und Jonas und lässt dann mit ihren Bewegungen keinen Zweifel daran, dass sie jetzt sofort losfahren sollten.
12. Türchen: Nina
Sie lächelt die ganze Zeit vor sich hin. Sie freut sich unheimlich auf das Treffen mit ihrer Familie gleich. Seit Monaten hat sie sie nicht mehr gesehen. In den letzten Wochen war sie viel unterwegs, all die Weihnachtskonzerte. Und ihre Dozentenstelle hat sie darüber hinaus auch ganz schön in Beschlag genommen. Sie spricht zwar regelmäßig mit ihrem Bruder Christian und sieht auch ihren Vater oft über den Videocall, doch das ist nicht dasselbe.
Am meisten freut sie sich auf ihre Neffen, Jan und Jonas. Vor allem auf Jonas. Sie hat zwei schöne neue Stücke herausgesucht, die sie ihm zeigen will. Er ist so süß. Sitzt dann da und schließt die Augen und fühlt richtig die Musik. Dieser kleine neunjährige Dreikäsehoch, der so viel in sich vereint. Christian schleppt ihn dreimal die Woche zum Judo, damit er auch bloß stark wird, sich wehren kann und vielleicht sogar ein erfolgreicher Sportler wird. Das, was Christian früher eben nicht war. Er wäre gerne ein erfolgreicher Schwimmer geworden, hatte auch wirklich Talent, aber ihre Eltern hatten keine Zeit für die ganze Fahrerei mehrmals pro Woche. Ihre Mutter hatte nicht einmal einen Führerschein.
Doch tief in seinem Inneren ist Jonas ein Musiker. Sie fühlt das. Sie weiß das. Deshalb hat sie ihm zu Weihnachten eine alte, ausgediente Geige aus dem Konservatorium besorgt. Hat sie fit machen lassen, so dass sie für Jonas noch gut zum Lernen geeignet ist. Sie freut sich schon auf seine Augen, wenn er sie auspackt. Tja, und wappnet sich auch innerlich gegen die Kommentare von Christian. Der wird vermutlich nicht begeistert sein. Ein wenig macht sich ein schlechtes Gewissen breit. Hätte sie ihn fragen müssen? Jonas wird regelmäßig üben und schließlich wohnt Christian mit ihm unter einem Dach. Aber mit Jonas‘ Mutter Susanne hatte sie gesprochen. Das hatte sich einfach so ergeben. Susanne schenkt Jonas Geigenstunden bei einer örtlichen Musiklehrerin. Susanne wird auch das Fahren übernehmen. Christian muss also nur ab und zu die Übetöne aushalten. Sie muss lachen. Das wird ein Spaß!
Sie ist auf dem Weg zu Christian nach Hause. Sie hat sich überlegt, den beiden bei den Vorbereitungen zu helfen. Später wird sie noch auf dem Marktplatz bei dem Konzert der hiesigen Musikschule mitspielen. Sie hat zwar keine einzige Probe mitmachen können, aber sie kennt alle Stücke. Eine ihrer leichtesten Übungen.
Hoffentlich hat sie an alles gedacht. Der letzte Abend und die Nacht klingen noch in ihr nach. Sie ist ein bisschen nervös in dieser Umgebung. Sie hofft, dass beim Konzert niemand bemerkt, wie verliebt sie beide sind. Sie hat sich vorgenommen, ihrem Vater morgen davon zu erzählen. Wenn er es weiß, ist alles gut. Und wie sie ihn kennt, wird er grinsen, kurz nicken und sagen „Hauptsache, es geht dir gut, mein Kind.“ Ach, dieser liebe Mann. Es tut ihr so leid, dass Mama nicht mehr da ist. Er vermisst sie sehr. Und sie auch.
Christians Auto steht gar nicht vor der Tür. Komisch. Sie klingelt und Susanne öffnet ihr.
„Hey, Nina! Da bist du ja schon! Komm rein! Ich freu mich so, dich zu sehen. Wie geht es dir? Wir sind allein, irgendwie sind alle ausgeflogen.“ Susanne steht vor ihr mit hochgebundenen Haaren, trägt eine Schürze und hält Tannenzweige in der Hand. Im Gesicht hat sie – Schokolade?
„Ich freu mich auch! Ich hab die Geige bekommen! Jonas wird sich so freuen!“ Nina drückt Susanne ganz fest an sich. Sie ist so glücklich, dass ihr Verhältnis zu ihrer Schwägerin nach der Trennung von Christian nicht gelitten hat. Überhaupt findet sie, dass Christian und Susanne das ziemlich gut machen.
„Wo sind denn alle?“ Nina tritt ein, es läuft Weihnachtsmusik und es duftet nach Brownies.
„Hm, und was gibt es denn Schönes? Du hast übrigens Schokolade im Gesicht.“
„Oh, ja, ich habe noch schnell Brownies gebacken. Eigentlich für Jan, das kommt an mein Geschenk für ihn dran. Ich habe keine Ahnung, wo alle sind. Also doch, Jan und Jonas wollten noch zum Opa. Jan hat ja eh immer keinen Bock auf den ganzen Rummel. Er hat Jonas mitgenommen. Ich denke mal, weil Christian und ich nicht da waren und er Jonas nicht allein lassen wollte." Susanne läuft zum großen Tisch und drapiert die Tannenzweige.
„Ach, Jan. So schräg er auch immer drauf ist, mit seinem Bruder ist er echt superlieb. Ich schenke ihm zu Weihnachten einen Tag am Meer. Ich bin voll aufgeregt, ob er das überhaupt gut findet! Na ja, Christian holt sicher das Fleisch vom Biobauern und muss dann bestimmt noch auf einen Kaffee zu eurem Vater, ist ja klar.“ Susanne macht mit ihrem Zeigefinder am rechten Auge einen Zwinkersmiley nach. „Mir war das jetzt ganz recht. Kann ich in Ruhe vorbereiten.“
Susanne sieht richtig frisch aus. So fröhlich. Fast aufgeblüht.
„Wie geht‘s so? Wie läufts hier und im Job? Und was macht die Liebe?“ Nina schaut Susanne von unten fragend an.
„Ach, frag nicht. Ich trau mich einfach noch nicht, die Katze aus dem Sack zu lassen. Heute Nacht hatten wir Endlosdiskussionen. Ich verstehe das ja, aber in diesem besonderen Fall will ich nichts überstützen. Das Schlimme ist, dass ich nicht mal mit Anna darüber sprechen kann. Meine beste Freundin weiß von nichts! Das finde ich auch irgendwie blöd. Ich bin so froh, dass wenigstens wir beide uns austauschen können. Wir Outlaws. Wie läuft es denn bei dir?“
„Na ja, so ähnlich.“ Nina lacht. Aber bei ihr hat die Heimlichtuerei morgen ein Ende.
„Ich rufe mal eben bei Papa an und sage ihm, dass ich direkt hierher gefahren bin. Oh, ich hab das Handy noch auf Flugmodus.“ Nina schaltet das Handy frei.
„Mein Handy war leer, musste ich auch grad erstmal laden. Ich schau auch mal, ob Jan geschrieben hat.“ Susanne läuft in die Küche zu ihrem Handy.
Nina schaut auf ihr Display. Es bauen sich zwei Nachrichten auf: Drei Anrufe in Abwesenheit von Christian. Komisch. Und drei Anrufe in Abwesenheit von Sascha!
„Ich rufe mal eben Christian an, er hat drei Mal versucht, mich zu erreichen.“ Nina beschleicht ein komisches Gefühl.
„Oh! Mich auch! Und Jan auch. Und sogar Jonas! Was ist denn da los?“ Sie starren sich an.
Papa, denkt Nina. Oh nein. Bitte nicht. Ninas Herz rutscht in die Hose. Sie weiß augenblicklich, dass etwas mit Papa sein muss. Sie wählt Christians Nummer.
13. Türchen: Opa Karl
Was für eine Aufregung. Er konzentriert sich darauf, es nicht so ernst aussehen zu lassen für Jan und Jonas. Und der Blick in Christians Gesicht macht ihn auch ganz fertig.
Verdammt, es kann doch nicht sein, dass er heute den Löffel abgeben soll? Das darf nicht sein. Komm schon, tief ein- und langsam ausatmen.
Anna hat gesagt, sie fahren jetzt los. Er steht auf. Er hört gar nicht mehr richtig, was die anderen sagen. Er versucht ein Lächeln. Reißt sich zusammen.
Im Flur nimmt er seine Jacke.
„Was muss ich denn mitnehmen?“ fragt er Anna.
„Hast du dein Portemonnaie? Deine Versichertenkarte? Und deine Tablettendose. Hast du die Verpackungen irgendwo? Im Küchenschrank? Ich hole sie. Das reicht. Mehr brauchst du nicht.“ Anna verschwindet in die Küche und schaut nach den Medikamenten.
„Komm Papa, halt dich mal an mir fest, wir gehen jetzt zum Auto.“
Es zerreißt ihm das Herz, dass Christian sich so Sorgen macht.
„Alles gut, mein Junge, ich kann schon alleine laufen. Hast du nicht gehört, was Anna gesagt hat? Ich hatte keinen Herzinfarkt. Alles ist in Ordnung.“
„Fast blind und bockstur, aber hören kannst du noch gut, oder was,“ Christian schnaubt.
„Papa, lass doch den Opa in Ruhe,“ ruft Jan von hinten.
„Ne, lass mal, das ist unsere ‚Love Language‘, oder wie sagt ihr dazu? Dein Vater und ich verstehen uns schon. Jan, hast du Lust, schonmal die Gurkenhäppchen zu machen? Du weißt doch, wie die gehen. Und der Jonas kann dir ja helfen, oder, Jonas? Du kannst sonst auch an die Orgel, wenn du willst.“
Er mag gar nicht zu seinen Enkeln hinsehen. Er ist ganz kurzatmig und kann kaum noch was Richtiges sagen. Warum geht es ihm denn jetzt minütlich schlechter?
Christian ist schon zu seinem Auto gelaufen und hält ihm die Beifahrertür auf. Normalerweise fährt er nicht gerne mit Christian, weil es ihn nervös macht, wie ordentlich der fährt. Ihn juckt es dann immer in den Fingern. Aber heute ist ihm alles recht.
Anna ist ein Schatz. Sie schaut ganz zuversichtlich aus. An sie wird er sich jetzt halten. Sie ist ja auch vom Fach. Er wird jetzt nur noch auf ihre Stimme hören.
Alles verengt sich. Sein Sichtfeld, seine Gedanken.
Langsam ein- und ausatmen.
Anna ist hinten eingestiegen, Christian fährt für seine Verhältnisse recht flott aus der Stichstraße raus.
„Ok, Karl. Alles gut? Mach mal bitte deinen Gürtel auf. Nicht eingeengt sein jetzt. Und genau, schön atmen. Mach auch ruhig mal die Augen zu. Christian, gib mir doch dein Handy, falls Susanne dich anruft. Und Karl, wir sind bestimmt ruckzuck wieder draußen.“
Karl lächelt. Aber es ist ein bitteres Lächeln.
Plötzlich weiß er ganz genau, dass heute nichts mehr gut wird. Er fühlt sich wie damals, kurz vor der Arm-Operation. Damals dachte er, er sei wegen der OP nervös. Doch gerade steht keine OP an. Nun weiß er, dass das der heranschleichende Herzinfarkt war. Bitte, nicht heute. An Heiligabend! Das will er seiner Familie nicht antun.
Er versucht, zur Ruhe zu kommen. Schließt die Augen. Das Auto ruckelt, Anna telefoniert mit dem Krankenhaus. Christian schweigt. Hoffentlich sind wir gleich da. Ist ja nicht weit.
Tilda. Tief ein- und langsam ausatmen.
Er bekommt Panik. Der Druck auf seiner Brust wird stärker.
Von weit her hört er, wie Anna ihn immer wieder anspricht. Wie Christian seinen Namen sagt.
Er fühlt sich ganz benommen. Er kann nicht sprechen.
Anna sagt: „Wir sind jetzt da!“
Die Tür wird aufgemacht, kalte Luft strömt herein.
Er kann nicht richtig sehen. Er fasst sich an die Brust. Christian ruft seinen Namen. Er hört fremde Stimmen. Er wird aus dem Auto herausgehoben und auf eine Liege gelegt.
Es ist kalt. Seine Brust brennt. Es ruckelt unter ihm. Christian ruft wieder seinen Namen. Jemand hält seine Hand.
Nicht jetzt.
Das ist alles, was er denken kann, und dann wird es dunkel.
---
Er macht einen tiefen Atemzug und reißt die Augen auf.
Über ihm ist es hell.
Er hat etwas über dem Mund.
Er hört verschiedene Stimmen.
Es ruckelt immer noch unter ihm. Er wird einen Gang entlang geschoben.
Jemand spricht ihn an. Eine fremde Person ruft ihn beim Namen.
Und dann hört er Annas Stimme: „Es wird alles gut, Karl. Wir waren rechtzeitig hier. Du machst das toll. Atme!“
Es ist kalt.
Verdammt nochmal!
Nicht heute! Hast du gehört? Nicht heute!
14. Türchen: Christian
Er steht da und sieht zu, wie die Männer seinen Vater auf die Liege bugsieren. Ein Notarzt beugt sich über ihn. Er hat direkt vor dem Lieferanteneingang des Krankenhauses angehalten, da, wo auch die Notarztwagen stehen. Anna hatte ihn dorthin gelotst, die Schranke war offen.
Die Männer schieben seinen Vater mit der Liege weg, Anna hält dessen Hand und redet mit ihm.
Christian läuft hinterher, aber irgendwie denkt er an sein Auto. Muss das nicht weg? Was muss er jetzt machen?
Anna kommt zu ihm zurück. Er bleibt stehen und starrt auf die Männer, die mit der Liege und seinem Vater abhauen.
Anna stellt sich vor ihn und schaut ihn an, fasst ihn am Arm.
„Christian? Christian!“ Er sieht zu ihr, dann wieder zu seinem Vater. Seine Knie zittern.
„Du kannst hier nicht stehenbleiben,“ sagt sie. „Fahr den Wagen eben zum Parkplatz und komm dann wieder hierher, ok? Ich warte hier oder hole dich hier ab. Wir dürfen eh nicht weiter mit rein. Kriegst du das hin? Soll ich das lieber machen?“
„Nein, nein, ich mach das schon. Bis gleich.“
Christian steigt in seinen Volvo. Seine Gedanken rasen.
Das darf doch nicht wahr sein. Hatte sein Vater gerade einen Herzinfarkt in seinem Auto? Warum passiert sowas? Warum passiert das seinem Vater? Und warum zur Hölle hat er nicht mal eher was gesagt? Dass es ihm nicht gutgeht? Dieser sture Hund!
Er parkt und rennt anschließend zurück zum Nebeneingang.
Wo ist sein Handy? Das hat Anna wohl noch. Er muss dringend Nina erreichen. Und Susanne. Verdammt.
Anna steht vor dem Nebeneingang, wippt vom einen auf den anderen Fuß und hat ihre Arme eng um sich geschlungen. Sie friert bestimmt.
„Da bin ich. Was passiert denn jetzt? Wo haben sie ihn hingebracht? Können wir da jetzt hin?“
„Wir gehen jetzt direkt durch zur Notaufnahme. Ich hab gesagt, dass wir kommen. Sie kümmern sich jetzt. Falls er gerade wirklich einen Herzinfarkt hatte, geben sie ihm Medikamente zur Gefäßerweiterung, gegen die Schmerzen und zur Beruhigung. Versorgen ihn mit Sauerstoff. Es kann gut sein, dass er operiert werden muss. Vielleicht setzen sie ihm noch einen Stent. Es gibt mehrere Möglichkeiten. Aber was genau sie machen werden, weiß ich nicht.“ Anna schaut ihn an und er bemerkt die kleine Sorgenfalte auf ihrer Stirn.
„Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll. Danke, dass du uns direkt hierher gelotst hast. Dass du ihn überredet hast! Ich hätte das nicht hingekriegt.“
„Ich mache mir trotzdem Vorwürfe. Wir hätten schon zu Hause den Notarzt rufen sollen. Es hat sich doch abgezeichnet.“ Anna beißt sich auf die Unterlippe und schüttelt mit dem Kopf.
„Aber dann hätte er den Infarkt zu Hause bekommen, bevor der Notarzt da gewesen wäre. Ich glaube nicht, dass wir dadurch Zeit gewonnen hätten.“ Er gibt sich einen Ruck und nimmt Anna in den Arm.
Einen Moment lang stehen sie einfach nur so da.
„Er ist doch jetzt in guten Händen. Es war gut, dass wir sofort gefahren sind. Komm, wir gehen rein.“ Er lässt Anna nur widerwillig los. Sie gehen die Lieferantenrampe hinunter durch das große offene Tor ins Krankenhaus.
„Wenn er wieder auf dem Damm ist, müssen wir – müsst ihr – echt mal mit ihm reden. Er muss seine Medikamente regelmäßig nehmen und gesünder essen,“ Anna führt ihn den Gang entlang.
„Ja, ich weiß. Aber kannst du dir vorstellen, dass er sich da irgendwas von annimmt, wenn ich ihm das sage?“
„Die Ärzte werden ihm den Kopf waschen. Und der Schreck heute wird vielleicht auch helfen. Vor allem der Schreck, den er in den Augen von uns allen gesehen hat,“ erwidert Anna. Sie biegen ab zur Notaufnahme.
„Kannst du mir noch eben mein Handy geben? Ich muss Nina anrufen.“
Er schaut auf sein Handy. Nina hat versucht, ihn zu erreichen. Susanne auch. Und Jan. Au Mann. Was für ein Chaos.
Er ruft erstmal Nina an.
„Christian! Was ist los? Sascha und Jan sagen, ihr seid ins Krankenhaus gefahren? Was ist passiert?“ Nina spricht leise, fast flüsternd, klingt aber leicht hysterisch.
„Papa hatte vermutlich im Auto einen Herzinfarkt. Anna hat sowas kommen sehen und wir sind quasi los, bevor es passiert ist. Wir waren hoffentlich noch früh genug. Er war eben zumindest wach und ansprechbar. Er wird gerade untersucht. Ich stehe hier in der Notaufnahme und warte. Ich weiß nicht, was genau jetzt passiert. Das heißt, du bist bei Papa zu Hause?“
„Ja, Susanne und ich sind sofort dorthin, als wir mit Jan gesprochen haben. Jan, Jonas, Sascha und Marie sind auch hier. Ich komme aber jetzt zu euch ins Krankenhaus. Ich nehme mir ein Taxi.“ Nina klingt aufgelöst.
„Nina, ganz ruhig. Er ist hier gut aufgehoben. Ich warte auf dich in der Notaufnahme. Susanne soll mit den Kindern nach Hause fahren.“
„Susanne sagt gerade, dass sie mit mir kommen will. Jan will auch. Verdammt!“ Er hört, wie Nina irgendwohin läuft.
„Nein! Lasst doch bitte die Kinder zu Hause. Meine Güte, Susanne soll mit den Kindern nach Hause fahren! Gib mir bitte mal Susanne.“
Das darf doch wohl nicht wahr sein, warum machen die da so ein Chaos?
„Christian? Ich bin‘s. Wie geht es Karl?“ Susanne klingt nervös.
„Wir wissen es nicht genau. Er wird untersucht, sie kümmern sich. Bitte, fahr doch mit den Kindern nach Hause und macht weiter mit den Vorbereitungen. Was soll das denn? Lass uns doch nicht so ein Chaos veranstalten. Überleg mal, was das mit Jan und Jonas macht. Wir können eh nicht alle hier sein. Bitte.“
Christian reibt sich die Stirn.
„Ist ja gut. Wir machen das schon. Christian? Es tut mir leid. Ich drück dich! Bis nachher.“
Es raschelt und das Handy wird weitergereicht.
„Ich mach mich auf den Weg,“ sagt Nina. „Bis gleich,“ sie legt auf.
Er muss sich setzen. Ihm wird ganz schlecht. Was ist, wenn es seinem Vater da drin wieder schlechter geht? Wenn sie ihn operieren müssen und das Herz nicht mehr will? Er fährt sich mit den Händen durch die Haare und kämpft mit den Tränen. Dann springt er auf und läuft zurück zu Anna.
15. Türchen: Susanne
Nina ist gerade raus. Aber nicht mit dem Taxi, sondern mit Sascha. Er war netterweise bei Jan und Jonas geblieben, damit die beiden nicht allein auf sie warten mussten. Und nun fährt er Nina eben mit Annas Auto – alles andere wäre ja auch irgendwie Quatsch gewesen.
Jetzt sitzen sie hier. In Opas Küche. Jan und Jonas auf der einen Seite der Eckbank, Marie auf der anderen. Alle drei sehen sie an. Und sie sollen jetzt nach Hause fahren und mit den Vorbereitungen weitermachen? Sie kann sich das gar nicht vorstellen! Sie ist so unruhig. Am liebsten würde sie auch ins Krankenhaus fahren.
Jan meinte eben, Anna wollte ihre befreundete Ärztin im Krankenhaus anrufen, weil sie vielleicht Dienst hat. Susanne weiß, wen Anna meint. Und sie weiß, dass Lisa heute Dienst hat. Schließlich ist sie heute morgen ganz früh ins Krankenhaus gefahren, kurz nachdem sie beide sich nur notdürftig vertragen hatten.
Ihr wurde ganz flau bei dem Gedanken, dass Lisa bei Christian und Anna im Krankenhaus war. Und niemand von ihrer Liaison wusste. Lisa ist Annas Kollegin, eine Ärztin auf ihrer Station, und die beiden sind seit langem befreundet. Über Anna haben sich Lisa und Susanne schließlich kennengelernt, auf Annas Geburtstagsparty im Sommer. Und was soll sie sagen: Es war ziemlich schnell um sie geschehen.
„Willst du jetzt mit uns nach Hause, oder was? Ich mach da nicht mit. Ich setz mich jetzt in den Bus und fahr zu Opa.“ Jan versucht, an Jonas vorbei über die Eckbank zu klettern.
„Jan, warte. Lass uns doch bitte gemeinsam überlegen, was jetzt das Beste wäre. Dein Vater meint, wir sollen die Ruhe bewahren und nach Hause fahren. Wir können im Krankenhaus eh nichts ausrichten.“
„Ach, aber hier, oder was? Willst du nach Hause und so tun, als ob nix wäre und weiter das dämliche Fleisch einlegen? Mach doch, ich fahr zu Opa!“
„Ich auch!“ Jonas nimmt diesen riesigen klebrigen Lutscher und steht ebenfalls auf.
„Ok, ok. Wartet! Ich will ja auch hin. Aber ihr müsst mir versprechen, dass ihr ohne viel Gedöns mit mir zurückfahrt, wenn wir da im Weg sind oder die Leute im Krankenhaus das sagen. Versprochen?“
„Ja klar! Wir sind doch keine Babys mehr!“ Jan geht in den Flur zu den Jacken.
„Moment noch. Wisst ihr was? Wir packen direkt noch eine Tasche für Opa. Mit Zahnbürste und so. Für den Fall, dass er im Krankenhaus bleiben muss. Überlegt mal mit: Was kann Opa wohl gebrauchen?“ Susanne geht Richtung Treppe.
„Er braucht auf jeden Fall seine Lupe, wenn er was lesen will,“ meint Jonas. „Und er braucht Musik! Sollen wir ihm eine kleine Box mitbringen? Und seine Rätselhefte!“ Meine Güte, die Kinder kennen ihren Opa gut.
„Ich hole das Bild von Oma, das will er bestimmt auch haben.“ Jan geht ins Wohnzimmer und holt den alten Bilderrahmen mit Tildas Foto. "Oder ist das übertrieben?" Jan bleibt stehen und überlegt.
„Darf ich auch mitkommen?“ Marie sitzt immer noch am Tisch, auf dem Kopf eine riesige graue Mütze. Ihre Hände sind ganz rot. Was ist das – Farbe? Sie sieht ganz blass aus.
Jan schaut entgeistert zu Marie und fragt: „Warum das denn?“
„Ich möchte jetzt nicht alleine zu Hause sein, wenn ihr alle im Krankenhaus seid. Sascha ist doch auch bei euch.“
„Marie, natürlich!“ Susanne geht zurück in die Küche und streicht ihr über den Arm. Marie atmet erleichtert aus und versucht, aus der viel zu engen Eckbank herauszuklettern. „Ich hole die kleine Box aus dem Musikzimmer. Und einen Stift für die Rätselhefte.“
„Aber nur, wenn du mich nicht die ganze Zeit so anguckst, als wär ich ein Vollidiot.“ Jan wirft Marie einen vernichtenden Blick zu. Er kocht mal wieder über vor Charme.
„Ich find‘s super, dass du mitkommst. Wie heißt nochmal der Dämon von letzter Woche? Morphex?“ Jonas schaut zu Marie.
„Morpheus. Und das ist ein Gott. Wo hat dein Opa denn die Kugelschreiber?“
Susanne geht hoch ins Schlafzimmer und packt notdürftig ein paar Sachen in die alte Reisetasche. Es ist ihr ein wenig unangenehm, an Karls persönliche Sachen zu gehen. Obwohl er selbst da ja – wie in allen Dingen – sehr pragmatisch ist. Es stört ihn sicher nicht.
Im kleinen Fernsehzimmer findet sie seine Lupe. Und ein kleines Bild von Tilda und ihm, zusammen mit dem vielleicht 14-jährigen Christian und der vierjährigen Nina. Ein 30 Jahre altes Bild. Das Bild steht so, dass Karl es eigentlich jeden Abend ansehen muss.
Einen kurzen Moment lang wird sie ganz wehmütig. Das Leben von Tilda und Karl war ganz gewiss nicht immer einfach. Sie hatten harte Schicksalsschläge zu meistern. Auch die Ehe war sicher nicht immer ein Fest. Doch die beiden, sie haben zusammengehalten. Es gab nie einen ernsthaften Zweifel, dass sie eine Familie sind, dass sie beieinanderbleiben. Und sie, Susanne, hat immer gespürt, dass das nicht nur war, „weil man das so macht“ in dieser Generation, sondern weil die beiden sich wirklich liebten.
Sie wird traurig. Christian und sie, sie hatten es nicht geschafft. Im Prinzip war von Anfang an bei ihnen beiden der Wurm drin. Sie hatten sich damals Hals über Kopf ineinander verliebt, zwei völlig gegensätzliche Charaktere. Sie konnten zu Beginn nicht ohne einander sein. Und dann kam auch schon ziemlich schnell Jan zur Welt. Jonas war dann später der typische Versuch, die Beziehung zu retten. Sie liebt Christian noch immer, aber eben nicht „so“.
Als sie alles beisammenhat, geht sie zur Treppe. Ihr Handy klingelt. Lisa!
„Lisa,“ flüstert Susanne. „Bis du im Krankenhaus? Hat Anna dich erreicht?“
„Hey. Ja. Ich war gerade bei deinem Schwiegervater. Die Kollegen haben sich um ihn gekümmert. Er ist stabil. Ich denke, sie werden ihn operieren und einen Stent setzen. Bist du zu Hause oder kommst du auch? Christian ist völlig fertig. Ich weiß nicht, vielleicht braucht er dich? Keine Ahnung. Er tut mir irgendwie leid.“ Lisa spricht sehr leise.
„Ja, wir kommen alle.“
„Alle? Um Himmels Willen, wo wollt ihr denn hin? Im Moment ist zwar nicht viel los. Das kommt erfahrungsgemäß erst heute Abend. Aber ihr dürft eh nicht zu deinem Schwiegervater rein. Höchstens Christian und seine Schwester. Aber ich würde mich natürlich freuen, dich zu sehen.“
„Wir kommen einfach. Und wenn es nur kurz ist. Ich hab ein paar Sachen für meinen Schwiegervater eingepackt. Und ich kann auch Jan und Jonas nicht davon abhalten.“
„Ok, dann bis gleich. Und Susanne? Keine Sorge, niemand wird etwas merken.“ Lisa wartet noch kurz und legt dann auf.
Susanne überkommt auf einmal der unbändige Wunsch, es allen zu sagen. Dass sie mit Annas Kollegin zusammen ist. Dass sie endlich das Gefühl hat, angekommen zu sein. Dass sie eine Frau liebt.
„Was ist? Kommst du, Susanne?“ Sie erschrickt. Auch das noch. Jan steht vor der Haustüre und ruft sie. Zum allerersten Mal nicht mit „Mama“, sondern bei ihrem Vornamen. Was soll sie jetzt damit anfangen?
16. Türchen: Alle
Christian sitzt auf einer Bank im Gang des Wartebereichs und knetet seine Hände. Sein Vater wird gerade operiert. Man sagte ihm, es sei ein Routineeingriff, dennoch hat Christian große Angst, dass es Komplikationen gibt.
Anna sitzt neben ihm. Sie reden nicht. Anna ist ebenfalls nervös. Sie macht sich immer noch Vorwürfe, nicht schnell genug reagiert zu haben.
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Nina sitzt den beiden gegenüber. Christian und sie schauen sich immer wieder an. Sie fühlt sich schlecht. Sie hat Angst, dass sie zu spät war, dass ihr Vater unter der OP noch einen Herzinfarkt bekommt oder etwas anderes Schlimmes passiert. Sie umklammert ihren Geigenkoffer und sehnt sich danach, zur Beruhigung zu spielen.
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Sascha sitzt neben Nina. Seine Mutter Anna und er schauen sich immer wieder an. Er spürt die Sorge der drei anderen. Doch er fühlt sich seltsam ruhig. Er hat das Gefühl, dass Karl das alles überleben wird. Karl kann einfach nicht sterben. Er ist sich sicher, dass heute nicht der Tag sein wird, an dem Karl einfach so aus ihrem Leben verschwinden wird.
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Susanne fährt den Wagen zum Krankenhaus. Neben ihr Jan, hinten Marie und Jonas. Niemand sagt etwas. Jede Ampel ist rot, aber sie sind gleich da. Sie fühlt sich seltsam befreit. Nichts ist mehr wichtig. Es gibt gerade keinen wichtigeren Ort, als genau dieses Auto mit den drei Kindern, auf dem Weg zu ihrer Familie. Sie sorgt dafür, dass sie gleich alle zusammen sind.
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Jan schaut auf die Straße. Ständig muss Susanne anhalten, viel zu viele Autos sind unterwegs. Er kann es nicht abwarten, endlich bei Opa zu sein. Er hat Angst, dass Opa nicht mehr aufwacht. Bei dem Gedanken daran zieht sich sein Hals zu. Verdammt! Er muss dringend ins Krankenhaus. Wieso zur Hölle ist jede beschissene Ampel rot?
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Marie schaut aus dem Fenster. Es fühlt sich komisch an, mit dieser Familie in einem Auto zu sitzen. Noch komischer ist es, dass Herr Langner fast gestorben wäre. Das kann sie sich nicht vorstellen. Welche Macht sollte ihn jetzt schon sterben lassen? Das macht überhaupt keinen Sinn. Ihr ist furchtbar warm unter der Mütze. Aber sie traut sich nicht, sie abzunehmen. Hätte sie doch bloß keine Henna-Farbe benutzt.
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Jonas hält sein Axolotl-Stofftier im Arm. Er hatte es im Rucksack, doch jetzt muss er es fest an sich drücken. Er weiß nicht genau, was gerade passiert. Aber er glaubt, dass die anderen glauben, dass Opa vielleicht sterben wird. Das kann er sich nicht vorstellen. Opa kann eigentlich nichts Schlimmes passieren. Er hat ihm mal gesagt, dass Oma Tilda sein Schutzengel ist und auf ihn und die Familie aufpasst. Das muss er Jan sagen, damit er keine Angst mehr hat.
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Opa Karl wird für die Operation vorbereitet. Die Medikamente wirken, er fühlt sich benommen, aber von weit weg spürt er noch die Angst. Am liebsten möchte er schlafen. Er ist so müde. Vielleicht macht er einfach die Augen zu. Er weiß nicht, wie viel Kraft er noch aufbringen kann. Es wird schon gutgehen, denkt er. Er schließt die Augen und lässt sich forttreiben.
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Christian steht auf und läuft den Gang hoch und runter. Es dauert nicht lang, haben sie gesagt. Er hofft, das Herz ist durch den Infarkt nicht zu stark beschädigt. Er versucht, seine Gedanken zu fokussieren. Auf irgendeine Weise alle seine Kraft in den OP zu schicken.
Dann sieht er Susanne den Gang entlanglaufen. Im Schlepptau die Kinder. In einem kurzen Moment will er sauer werden. Doch dann versteht er, dass es gar nicht anders geht. Sie müssen hier alle zusammen sein und warten. Susanne verlangsamt ihren Schritt, bleibt vor ihm stehen. Sie sagen nichts. Dann tritt sie auf ihn zu und nimmt ihn in den Arm.
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Jonas sieht zu, wie seine Eltern sich ganz lange umarmen. Sein Herz macht einen Hüpfer. Er freut sich und schaut lächelnd zu Jan hinüber. Doch der schaut grimmig wie immer. Er sucht nach seiner Tante Nina. Sie sitzt dort vorne, sieht ganz ernst aus und er glaubt, sie hat geweint. Auch Anna schaut ernst zu Boden. Seine Eltern lassen sich los, flüstern miteinander.
Irgendwie fühlt es sich nicht so an, wie er es sich vorgestellt hatte. Auf einmal bekommt er ein schlechtes Gewissen. Ist all das passiert, weil er sich gewünscht hat, dass seine Eltern sich wieder vertragen und in den Arm nehmen? Er geht ein paar Schritte rückwärts, dann dreht er sich langsam um und rennt weg.
17. Türchen: Jan
Er starrt auf Maries komische Mütze, ständig kratzt sie sich am Kopf. Hoffentlich hat sie keine Läuse. Seine Eltern umarmen sich und lassen sich gar nicht mehr los. Was für ein eigenartiger Anblick.
Nina und die anderen sitzen weiter vorne. Da sind auch noch Plätze frei. Am besten gehen sie jetzt mal da hin. Jonas hat sich doch auch voll auf Nina gefreut. Wo ist er denn jetzt?
Jan dreht sich im Kreis und sieht gerade noch, wie Jonas ganz hinten im Gang um die Ecke rennt, dorthin, wo sie hergekommen sind.
„Jonas!“, ruft er ihm hinterher und dreht sich dann zu seinen Eltern um. Sein Vater sieht ihn an und dann den Gang hoch.
„Was ist los? Wo läuft er hin?“
„Keine Ahnung. Ich geh mal gucken. Was ist denn mit Opa?“, Jan geht schon ein paar Schritte, schaut aber noch zu seinem Vater zurück.
„Er wird operiert, wir müssen warten.“
„Ok, ich hole Jonas“, ruft er und beschleunigt seinen Gang.
Verdammter Mist, was für eine bescheuerte Idee schon wieder. Immer haut der ab. Wo will er denn eigentlich hin?
Er läuft um die Ecke und sieht Jonas ganz weit hinten links abbiegen.
Meine Güte! Wieso ist der so schnell? Jan muss jetzt richtig Gas geben.
Links um die Ecke macht sich ein weiterer Gang auf. Er sieht Jonas hinten rechts abbiegen. Da scheint es in eine Art Halle zu gehen, oder so. Auf jeden Fall wird es da heller und Leute kommen von da.
„Jonas! Jetzt warte doch, Bruder!“
Als er hinten ankommt und rechts um die Ecke läuft, begegnet er mehreren Menschen. Sieht so aus, als kommt man hier zu einer Cafeteria. An einer Stelle knubbeln sich die Leute. Aber nirgendwo ist Jonas zu sehen.
„Wenn hier irgendwo ein Aquarium ist, wird Jonas sicher dorthin gehen.“ Marie steht neben ihm.
Toll, jetzt hat er die auch noch am Hacken.
„Ich finde Jonas schon, keine Sorge. Und bleib mal ein bisschen von mir weg. Hast du Läuse?“
„Läuse?! Wie kommst du denn da drauf?“, sie laufen gemeinsam den Gang entlang und weichen einem älteren Paar aus, das nur sehr langsam vorwärtskommt.
„Ich hab doch keine Läuse. Was glaubst du, wie alt ich bin?“
„Was hat das denn damit zu tun? Ich hatte letztens auch noch welche, weil Jonas die aus der Schule angeschleppt hat. Ist ja jetzt nix Schlimmes, aber ich hab keinen Bock auf diesen scheiß Läusekamm. Also bleib mal weg.“
„Ich hab keine Läuse!“
„Warum trägst du dann diese riesige Wollmütze und kratzt dich die ganze Zeit? Ist doch viel zu warm! Wo ist der nur hin, verdammt?“
„Ich habe meine Haare mit Henna gefärbt. Hätte ich nicht machen sollen.“
Jan bleibt stehen.
„Echt? Deshalb auch die roten Hände. Hat dir keiner gesagt, dass man zum Färben Handschuhe anzieht?“
„Haha. Das war Absicht, du Idiot. Nein, leider sind meine Haare jetzt an vielen Stellen grün.“
Jan muss laut lachen: „Grün! Ich lach mich tot. Wie geht das denn?“
„Nerv nicht! Das kann passieren. Ich habs auch nicht gut einwirken lassen, auf einmal gab es diese Aufregung mit deinem Opa und ich hab‘s zu früh ausgewaschen vielleicht, was weiß ich.“
„Zeig!“ Jan bleibt wieder stehen und versucht, ihre Mütze abzunehmen.
„Lass das! Such lieber deinen Bruder, du Vollidiot.“
Jonas ist nirgends zu sehen. Sie kommen zum Eingang der Cafeteria. Überall Leute, nirgendwo Jonas.
Unter den Tischen! Jan und Marie gehen rein und schauen gleichzeitig überall unter die Tische.
„Kann ich euch helfen? Habt ihr etwas verloren?“ Eine ältere Dame spricht sie an. Sie sieht aus wie eine Patientin.
„Wir suchen meinen Bruder. Er sitzt gern unter Tischen. Haben sie ihn vielleicht gesehen? Er ist neun, aber recht klein.“
„Hier ist eben ein kleiner Junge langgerannt. Er hat da vorne jemanden angerempelt und dabei ist eine Tasse runtergefallen. Er ist einfach weitergerannt!“
„Das tut mir leid. Aber in welche Richtung ist er gelaufen?“ Jan kriegt gleich einen Anfall.
„Gibt es hier irgendwo Fische? Ein Aquarium?“, fragt Marie und schaut sich um.
„Aber natürlich. Vorne am Eingang gibt es eins. Immer voller Fingerabdrücke. Ganz unhygienisch.“ Die alte Dame verzieht das Gesicht und hält sich an ihrem Infusionsständer fest.
„Da wird er sein“, sagt Jonas und zieht Marie am Ärmel Richtung Haupteingang.
Sie erreichen die Empfangshalle. Da steht er ja. Na warte, dir werde ich die Ohren langziehen. Er geht auf Jonas zu und bleibt vor ihm stehen.
„Was soll das denn wieder? Warum haust du denn immer ab? Das nervt total!“
Jonas hält sein Axolotl ganz fest. Er weint. Oh nein, nicht das auch noch.
„Komm her, du Otto. Es wird nicht besser, wenn du abhaust, verstanden? Davon kriege ich nur schlechte Laune. Der Opa wird wieder. Er wird operiert und dann können wir bald zu ihm. Komm schon.“ Er nimmt ihn ganz fest in die Arme und der kleine Idiot schluchzt ganz doll. Jetzt muss er aufpassen, dass er nicht auch noch anfängt zu heulen.
„Ich bin Schuld!“, sagt Jonas.
„Was? Was meinst du?“
„Ich hab mir so doll gewünscht, dass Mama und Papa wieder zusammenkommen und sich umarmen. Und jetzt musste erst der Opa fast sterben, damit das passiert. Es ist alles ganz schief gelaufen!“ Jonas drückt sich fest an Jan.
Jetzt muss Jan lachen.
„Also echt, DAS denkst du? Alter, so viel Macht haben wir nicht! Echt nicht! Wenn alles wahr werden würde, was ich mir wünsche, dann gäb‘s einen Haufen Probleme weniger auf dieser kaputten Welt. Mensch, das liegt doch nicht an dir! Der Opa hat ein krankes Herz, das hat er doch schonmal gesagt. Der muss halt mal weniger Fleisch essen und so. Mein Reden! Und Mama und Papa haben sich nur umarmt! Die streiten sich auch gleich wieder, keine Sorge. Hey Mann, mach dir keinen Kopf.“
Meine Güte, was sein kleiner Bruder sich alles zutraut. Unglaublich. Er drückt ihn nochmal feste.
„Mach bloß keinen Schnodder auf meine Jacke. Komm schon. Wir gehen zurück zu den anderen. Die fragen sich bestimmt, wo wir sind.“
Marie kommt jetzt ganz nah und streichelt Jonas über den Arm. Sie wirft Jan einen traurigen Blick zu.
„Komm Jonas, das mit den Wünschen, das funktioniert am besten in der Fantasie. Aber da dann richtig. Ich erkläre dir mal, wie das geht, ok?“ Jonas schaut Marie an und umarmt dann auch sie.
„Komm, lass mal los!“.
Was für ein Kitsch, denkt Jan. Und alles viel zu nah. Er will jetzt endlich zu Opa.
Sie gehen langsam zurück. Verstohlen sieht er Marie von der Seite an. Grüne Haare? Pah, die will er sehen!
18. Türchen: Anna
Christian und Susanne halten sich lange im Arm. Anna mag gar nicht richtig hinsehen.
Susanne ist seit ein paar Jahren ihre Freundin. Anna hat Susannes Trennung von Christian damals hautnah mitbekommen. Das war alles nicht einfach, klar, aber sie findet, dass die beiden das ganz gut hingekriegt haben.
Seit ein paar Monaten, vielleicht seit dem Sommer, haben Susanne und sie kaum Zeit miteinander verbracht. Susanne hat wohl einen neuen Freund, aber sie redet nicht über ihn. Das findet Anna komisch. Warum sagt sie nichts über ihn? Normalerweise erzählt sie immer ziemlich schnell, wenn sie jemand Neues kennengelernt hat. Anna vermutet deshalb seit ein paar Wochen, dass es Christian ist. Dass die beiden sich wieder nähergekommen sind, es aber noch nicht publik machen wollen, bis sie sich ganz sicher sind. Wegen der Kinder? So muss es sein. Auf jeden Fall ist das die einzige Erklärung, die sie hat.
Und es stört sie. Es stört sie auch, dass es sie stört. Anna findet ihre Schwäche für Christian selber total blöd. Und das mit Susanne macht es jetzt nicht einfacher. Hätte sie sich doch mal eher getraut, Christian anzusprechen. Mal was trinken zu gehen, oder so. Aber sie ist einfach so verflucht aus der Übung! Tja, da kam Susanne ihr vermutlich einfach zuvor.
Und dann heute die Sache mit Karl. Anna macht sich schwere Vorwürfe. Sie hätte sofort den Notarzt rufen sollen. Sie hatte doch im Gefühl, dass sich ein Herzinfarkt ankündigt.
Auch wenn Christian eben total verständnisvoll war und sie sogar einen – wie sie findet – echten nahen Moment hatten, wird er in kürzester Zeit bestimmt anders darüber denken.
Irgendwie ist ihr ganz schlecht. Sie sieht zu Sascha rüber, der mit den Ellenbogen auf seinen Knien dasitzt und rüber zu Nina schaut.
„Sascha, hast du Lust, mit mir Kaffee holen zu gehen? Ich muss hier mal einen Moment raus.“
„Ja klar. Wer möchte denn Kaffee? Nina? Oder lieber Tee?“ Nina lächelt Sascha an. Sie möchte einen Tee.
„Christian, Susanne? Möchtet ihr Kaffee? Sascha und ich gehen mal los und holen welchen.“
Sie gehen rüber zu den beiden, die immer noch im Gang stehen und sich leise unterhalten.
„Ich kann auch mitkommen“, sagt Christian.
„Nein, nein, Sascha hilft mir. Setzt ihr euch mal hier auf die Bank. Die drei Kinder sind alle weg? Wo sind sie denn?“
„Ja, Jonas ist mal wieder weggerannt und Jan und Marie suchen ihn.“ Christian sieht ihr direkt in die Augen. Herrje, sie muss hier weg.
„Ok, wir gehen mal los. Kommst du, Sascha?“
Sie gehen an den beiden vorbei. Christian hält sie am Arm fest.
„Anna? Können wir vielleicht später mal kurz reden?“, Christian sieht sie eindringlich an. Au weia, da ist es. Er wird ihr bestimmt irgendwas mit Karl sagen, möchte das aber nicht vor den anderen tun. Ihr wird ganz übel und sie zittert ein wenig. „Ja, sicher. Wir sind ja gleich wieder da.“
Sie hakt sich bei Sascha unter und sie gehen den Gang entlang.
„Alles ok, Mama? Was ist los? Machst du dir so große Sorgen? Ich weiß nicht warum, aber ich hab einfach das Gefühl, dass es Karl gut geht, dass er das schafft. Und hey, ich hab bestimmt den sechsten Sinn.“ Sascha lächelt sie an und schubst sie ein wenig mit der Hüfte.
„Ach, ich weiß nicht. Ich fühle mich heute irgendwie mies. Mich hat das alles mitgenommen. Und so langsam müssten die Kollegen auch aus dem OP wieder auftauchen.“ Anna hält sich an Sascha fest.
Wie schön, dass Sascha da ist. Seit er in Den Haag studiert, hat er sich ganz schön verändert. Erwachsen geworden ist er. Irgendwie reifer. Sie streicht über seinen Arm und ihr Blick fällt auf sein Armband.
„Oh, das ist aber schön. Ist das neu?“
„Ja, ich hab‘s selbst gemacht. Meine Freundin hat das gleiche, nur in Braun.“ Er sieht sie stolz an und im nächsten Moment schnell weg.
„Ahaaaa! Wer ist denn nun deine neue Freundin? Sag! Marie platzt auch schon vor Neugierde.“
„Geduld, Geduld. Ich werde sie euch bald vorstellen. Vermutlich sogar in den nächsten Tagen.“ Sascha grinst sie von der Seite an.
„Warum denn so geheimnisvoll? Ach egal, ich freue mich, dass es dir gut geht. Und dass du so idiotisch grinst.“ Dieses Mal schubst sie ihn ein wenig.
„Und bei dir? Wie sieht es denn eigentlich bei dir aus? Kein Mann in Sicht?“
„Aha, sind wir jetzt sogar schon bei solchen Themen angelangt? Darüber haben wir ja noch nie gesprochen.“ Anna lächelt.
„Ach komm schon. Das mit unserem Vater ist doch schon ewig her! Also von uns aus kannst du dir gerne mal jemanden suchen. Ich finde ja, dass du und Christian hervorragend zueinander passen würdet. Ihr seid nur beide zu blöd, euch mal anzusprechen, kann das sein?“ Sascha verdreht die Augen.
„Haha, was du nicht alles so denkst. Christian ist bestimmt vergeben, glaube ich zumindest. Ach, das wäre auch komisch, Susanne ist schließlich meine beste Freundin.“
„Ja und? Die beiden sind seit Ewigkeiten nicht mehr zusammen. Trau dich doch einfach mal!“
Anna sieht verlegen zu Boden. Sie möchte gerne das Thema wechseln.
„Da vorne ist die Cafeteria. Ach, und guck mal, da kommen ja auch Marie, Jonas und Jan.“ Anna winkt den dreien zu.
„Hey, alles ok bei euch? Wir holen gerade Kaffee. Möchtet ihr auch etwas trinken?“ Marie hat einen hochroten Kopf. Anna würde sich wünschen, dass Marie endlich diese warme Mütze auszieht. Grüne Haare hin oder her. Manche färben sie sich mit Absicht so.
Jonas hat definitiv geweint. Der arme kleine Kerl. Und Jan schaut grimmig wie immer.
„Ach ja, warum nicht“, sagt Jan. „Haben die Ärzte noch nichts gesagt? Ist Opa immer noch im OP?“
„Ja, aber ich denke, gleich müsste er raus sein. Wenn wir zurückkommen, hat euer Vater bestimmt schon was gehört. Kommt ihr noch mit in die Cafeteria oder geht ihr zurück?“
„Wir gehen schonmal, wenn das ok ist? Ich würde gerne da warten.“ Jan ist so ein netter Kerl geworden. Eine alte Kratzbürste, aber ein Blick auf ihn im Zusammenspiel mit Jonas sagt eigentlich alles.
Anna fühlt sich in diesem kurzen Augenblick sehr verbunden mit dieser Familie. Sie würde es schön finden, wenn sie zusammengehören würden. Aber das ist ja alles Quatsch. Los jetzt, Kaffee holen und zurück zu den anderen. Wenn sie bis dahin nichts aus dem OP gehört haben, würde sie mal zu einem Kollegen gehen und nachfragen.
„Hey!“ Jemand legt eine Hand auf ihren Rücken. Christian.
„Ich dachte, ihr könnt noch zwei helfende Hände gebrauchen.“ Er lächelt sie durch seine müden Augen an. Ihr Herz macht einen Hüpfer.
Verdammt, denkt sie. Was ist hier eigentlich los?
19. Türchen
Mittlerweile ist es früher Nachmittag. Die Operation von Opa Karl verlief gut, es gab keine Komplikationen. Es war ein leichter Infarkt, sie konnten ihm einen weiteren Stent setzen. Karl ist nur sehr erschöpft und muss sich jetzt ausruhen. Er bleibt zur Beobachtung im Krankenhaus. Die Erleichterung ist groß!
„Was machen wir jetzt?“, fragt Jonas. „Fahren wir jetzt nach Hause? Ich hab Hunger.“
Christian nimmt Jonas auf den Schoß. „Ich denke, wir schauen gleich, wohin Opa verlegt worden ist, und dann fahren wir erstmal alle nach Hause.“
„Und wer ist bei Opa, wenn er wach wird?“, Jonas dreht sich auf dem Schoß zu seinem Vater um.
„Das bin ich.“ Nina steht am Rand der Gruppe. „Ich bleibe hier. Ich möchte da sein, wenn er aufwacht.“
„Ich kann auch noch ein bisschen hierbleiben“, sagt Sascha.
„Gut, dann könnt ihr später ja auch wieder gemeinsam nach Hause fahren?“ Anna sieht zu Sascha und Nina hinüber. Die beiden schauen sich an und nicken.
Auch wenn alle erleichtert sind, dass es Opa Karl gut geht, die Stimmung ist irgendwie gedrückt.
Christian überlegt.
„Wie wäre es denn, wenn wir zusammenschmeißen und alle zusammen bei uns Heiligabend verbringen? Ich meine, all die Aufregung, das ganze Durcheinander. Heiligabend ohne Opa. Ich fänd es schön, wenn wir jetzt nicht alle auseinandergehen. Genug Essen haben wir, Platz auch. Na ja, nur der Weihnachtsbaum müsste noch geschmückt werden. Was meint ihr?“ Christian schaut in die Runde.
Nina und Sascha schauen sich an, Susanne sieht rüber zu Anna, Anna zu Marie. Christian sucht Jan, der vorne an der Wand lehnt.
„Ich fänd‘s cool“, sagt Jonas. „Ich möchte nur, dass Opa auch dabei ist“, er dreht sich auf Christians Schoß um, legt seinen Kopf an Christians Schulter und weint.
Susanne setzt sich dazu und streichelt über Jonas‘ Rücken. „Lass uns das so machen, ich finde, das ist eine schöne Idee. Oder, Anna?“ Susanne lächelt Anna an.
Anna sucht erneut den Blick von Marie und Sascha.
„Ich weiß nicht“, Anna schaut zu Boden. „Wir wollen ja auch nicht bei irgendetwas stören. Ich weiß ja nicht, was ihr heute so geplant hattet.“ Anna hebt den Blick und sieht zu Christian und Susanne.
„Wir haben nichts Besonderes geplant“, sagt Christian. „Wir hätten uns vermutlich wie immer schlimme traurige Lieder von Nina und Karl anhören müssen. Wir hätten alle zusammen krumm und schief ‚Oh Tannenbaum‘ gesungen, Raclette gegessen und Geschenke ausgepackt. Und eigentlich haben wir alle gehofft, Susanne würde endlich verraten, wer ihr neuer Freund ist. Oder, Jan und Jonas?“ Christian grinst rüber zu Jan.
Widerwillig muss Jan ebenfalls grinsen und schaut zu seiner Mutter.
„Wie bitte?“, fragt Susanne. „Unterhaltet ihr euch jetzt schon gemeinsam darüber?“
„Oh Mann, Mama, äh Susanne, ja klar. Als ob wir blöd wären, echt!“ Jan schüttelt den Kopf und sieht zu Boden.
„Ihr seid echt unmöglich!“ Susanne wird rot.
Anna lehnt sich an die Wand. So ist das? Susanne ist nicht wieder mit Christian zusammen? Schlagartig wird ihr ganz flau. Sascha sieht zu ihr herüber, lacht und schüttelt den Kopf.
„Ich finde, wir sollten das machen“, sagt Sascha. „Es wird sowieso Zeit, dass wir mal alle was zusammen machen. Und Karl würde sich bestimmt darüber freuen.
Christian drückt Jonas noch einmal ganz feste an sich und steht dann auf. „Super, dann lasst mal langsam los. Nina, wollen wir beide nochmal kurz nachfragen, wohin sie Papa verlegt haben? Wer fährt denn jetzt wie und mit wem nach Hause? Sollen wir das einfach so machen, wie auf dem Hinweg? Susanne, die Kinder bei dir? Und Anna, fährst du gleich wieder mit mir zurück?“
„Ja klar, lass uns das so machen.“ Susanne wuchtet Jonas nochmal kurz auf ihren Arm. Jonas klammert sich an sie. „Komm, du Meeresgetier. Lass uns mal los. Der Opa schläft jetzt ne ordentliche Runde und morgen früh ist er auch wieder fast der Alte.“ Sie läuft mit Jonas auf dem Arm los.
„Und Anna?“ Sie dreht sich zu Anna um. „Lass dich nicht von dem Typen volllabern.“ Sie grinst Christian an.
„Toll. Friede, Freude, Eierkuchen oder was?“ Jan stößt sich von der Wand ab und läuft auf die anderen zu.
Marie kratzt sich am Kopf, es ist so furchtbar heiß unter der Mütze. Jan bleibt neben ihr stehen.
„Aber nur ohne Mütze. Ich will die grünen Haare sehen,“ raunt er Marie zu.
„Träum weiter, Idiot“, blafft Marie zurück. Dann blicken beide zu Boden, grinsen und laufen los.
20. Türchen: Susanne, Jonas, Marie und Jan
„Los, kommt ihr drei. Wir haben jetzt noch eine Menge zu tun. Marie, ich fahre dich erstmal zu dir, ok? Wir besprechen dann später mit Anna, wann ihr zu uns kommt.“ Susanne stellt Jonas wieder auf den Boden.
„Puh, Jonas, du bist mir leider zu schwer. Zu groß geworden, zu viele Steine gegessen.“ Sie wuschelt ihm über den Kopf.
Sie ist ganz froh, dass es jetzt etwas zu tun gibt. Sie findet die Idee von Christian super. Das lockert den Abend ein wenig auf. Und sie hofft, dass Christian endlich mal Anna fragt, ob sie mit ihm ausgeht. Die beiden sind echt schräg. Jeder weiß, dass sie sich mögen, aber beide tun so, als wäre das nicht möglich. Hoffentlich haben sie keine Scheu wegen ihr! Dieser Gedanke kommt ihr gerade. Das wäre ja total bescheuert! Sie nimmt sich vor, da heute Abend mal ein bisschen nachzuhelfen.
Aber dass Christian sich mit den Jungs über ihr Liebesleben unterhält, findet sie schon fragwürdig und eigentlich auch nicht gut. Sie hätte nicht gedacht, dass es alle so sehr beschäftigt! Na ja, vielleicht wollte sie auch einfach nicht genauer darüber nachdenken.
Sie beschließt, es heute Abend in der Runde zu sagen. Dass sie mit Lisa zusammen ist. Wenn das Thema jetzt eh schon auf dem Tisch ist, dann raus damit. Kurz und schmerzlos. Dann kann sie ab jetzt auch ohne schlechtes Gewissen über Lisa reden und sie sogar zu ihnen nach Hause einladen. Plötzlich hebt sich ihre Stimmung. Sie nimmt Jonas an die Hand und sie laufen zügig zum Auto.
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„Ich habe übrigens von Anfang an gewusst, dass Opa nicht stirbt“, sagt Jonas zu den anderen. Sie sind am Auto angekommen und er setzt sich hinten rein.
„Ja klar, Bruder“, antwortet Jan. „Aber rumheulen, weil du dachtest, er wäre wegen dir fast gestorben!“ Jan setzt sich auf den Beifahrersitz.
„Ja, weil ihr mich so erschreckt habt! Weil ihr das alle gedacht habt. Und übrigens mache ich heute Abend die Kerzen am Baum an! Papa hat es mir letztes Jahr versprochen.“
Jonas sagt das extra laut. Denn bestimmt meint Jan gleich, dass das nicht stimmt. Jan macht sonst nämlich immer die Kerzen an. Aber in diesem Jahr ist Jonas dran! Er hat sich schon den ganzen Morgen darauf gefreut.
„Ja, du Otto. Ist ja schon gut. Ich bin da eh nicht mehr scharf drauf.“ Jan guckt kurz zu Marie, die sich neben Jonas setzt, und schnallt sich an.
„Marie, kann ich mal deine grünen Haare sehen?“ Jonas schaut sie extra lieb an. Er weiß, wie man Leute angucken muss, damit sie machen, was man von ihnen will. Von unten hoch gucken und lieb fragen. Bisher hat das fast immer geklappt.
„Ach Mann, nicht du auch noch!“, sagt Marie. „Ihr seid beide totale Nervensägen!“ Marie guckt genervt aus dem Fenster.
„Ich finde grüne Haare cool“, sagt Jonas. Er möchte ihr Mut machen. Und am Ende sagen können, dass sie wegen IHM die Mütze abgezogen hat.
„Jonas, du kannst mich anschmachten, wie du willst, ich ziehe die Mütze nicht ab. Und jetzt guck weg.“
„Siehst du, Bruder, bei der kannste mit deinem Babyface auch nicht landen. Obwohl ich‘s dir in diesem Fall gegönnt hätte.“ Jan lacht. Jonas runzelt die Stirn. Er hat Jan schon lange nicht mehr lachen hören. Er schaut aus dem Fenster. Hoffentlich kommt Nina schnell nach Hause. Nina hat ihm eben zugeflüstert, dass sie zwei neue Musikstücke dabeihat. Darauf freut er sich jetzt. Grüne Haare hin oder her.
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Marie schaut aus dem Fester. Verdammt, was macht sie denn jetzt gleich mit ihren Haaren? Sie würde die Mütze am liebsten sofort ausziehen! Was für eine blöde Idee, die dicke Wollmütze zu nehmen. Eigentlich weiß sie gar nicht, wie schlimm das mit dem Grün ist. Sie hatte eben nur kurz in den Spiegel gesehen und sofort einen Panikanfall bekommen. Aber dann ging ja alles so schnell mit Herrn Langner und sie hatte keine Zeit für Plan B.
„Susanne, hat Roßmann noch auf? Weißt du das? Könntest du mich da rausschmeißen?“
Sie könnte noch schnell einen Braunton kaufen und die Haare überfärben.
„Sicher nicht, Marie. Jetzt sind hoffentlich auch die Mitarbeiter von dort alle zu Hause. Möchtest du die Haare überfärben?“ Na toll, jetzt reden sie schon vor Jan und Jonas übers Haarefärben. Voll peinlich.
„Nein, nein, alles gut.“
„Ich kann dir schwarze Farbe geben. Ich hab noch eine Tube“, sagt Jan und grinst sie dabei an.
„Nein danke, schwarz ist mir zu traurig.“ Sie rümpft ihre Nase und sieht Jan grimmig an. Warum ärgert er sie die ganze Zeit?
„Ne, ist klar. Hennagrün ist voll fröhlich. Ich freu mich schon drauf“, antwortet Jan.
„Meine Güte, könnt ihr mal aufhören? Jan, deine Haare waren nach dem ersten Färben fleckig, weißt du noch? Das passiert doch jedem mal“, sagt Susanne. „Marie, komm, Augen zu und durch. Ich hatte das auch mal. Nach den Feiertagen färbst du braun drüber und alles ist vergessen.“
Na toll, das hilft ihr jetzt echt weiter. Trotzdem. Sie hat tatsächlich keine Lust, sich die ganze Zeit darüber zu ärgern. Sie steht jetzt einfach dazu. Soll der blöde Jan doch lachen. Außerdem hat sie das Gefühl, dass er es eigentlich gar nicht so meint. Ach, ihr wird schon eine passende Antwort einfallen. Sie lächelt aus dem Fenster.
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Jan muss sich die ganze Zeit ein Lachen verkneifen. Obwohl der Spruch von Susanne mit den fleckigen Haaren schon ein Dämpfer war. Er ist ja eigentlich nur froh, dass auch anderen so Färbeunfälle passieren. Und Marie lässt sich so schön ärgern! Er grinst aus dem Fenster. Eigentlich ist die sogar ganz nett. Quatscht ein bisschen komisches Zeug von Paralleluniversen und Göttern und so. Bisschen cringe ist sie schon. Aber sie ist nett zu Jonas. Und zwar nicht auf diese komische Art nett. Sie labert ihn nicht babymäßig an, sondern behandelt ihn ganz normal. Das gefällt ihm. Er weiß, dass sie weiß, dass er kifft. Hat ihn ja schon oft genug gesehen. Aber sie hat nie was gesagt. Ist keine Petze. Opa meinte, sie sei ein ‚tolles Mädchen‘. Sie hätte hunderte Geschichten im Kopf und das solle ihr mal einer nachmachen.
Er wird wieder ernst. Das war knapp heute, da ist er sich sicher. Wenn er daran denkt, dass Opa heute fast gestorben wäre, wird ihm wieder ganz anders. Das darf nicht sein. Opa muss so lange leben, bis er selbst Kinder hat. Falls er überhaupt Kinder in diese kaputte Welt setzen will. Aber wenn, dann sollen sie auch noch was von seinem Opa haben. Er weiß, dass das ganz schön eng wird, wenn er nicht gerade schon in zwei Jahren Kinder kriegen will. Aber trotzdem. Ohne Opa – das kann er sich nicht vorstellen.
Er nimmt sich vor, ab jetzt mit auf ihn zu achten. Verdammt nochmal kein Fleisch mehr! Das wäre doch mal ein Anfang. Und alles mal was ruhiger! Aber wie kann man seinem Opa Achtsamkeit beibringen? Wie kann man seinem Opa überhaupt irgendetwas sagen? Das wird echt ne Herausforderung. Darüber muss er nachdenken.
Jetzt ist er erstmal froh, dass es ihm gutgeht und Nina bei ihm ist. Morgen fahren sie alle wieder hin und besuchen ihn.
Er dreht sich nochmal unauffällig zu Marie um. Sie grinst aus dem Fenster. Er sieht wieder nach vorne und grinst auch.
21. Türchen: Nina und Sascha
„Ok, ich habe die Tasche von Susanne bekommen. Sie hat schlauerweise alles mögliche für Papa eingepackt. Ich bleib hier, bis er wieder wach ist, ok? Wie gut, dass er ein Einzelzimmer hat. Dass er für sowas vorgesorgt hat, erstaunt mich total." Nina schaut zu Christian.
Christian nimmt Nina in den Arm. „Ja, immer für eine Überraschung gut, unser Vater. Dass Mama ihre letzten Tage in einem Viererzimmer verbringen musste, hat ihn echt belastet. Damals hatte er sich mehr Privatsphäre gewünscht. Ach, ich bin froh, dass du bei ihm bleibst.“
Für einen Moment stehen sie so da. Sie schließt die Augen. Sie hat ihren großen Bruder vermisst. Und ihren Vater.
„Christian?“ Sie bleibt in seinem Arm und schaut zu ihm hoch.
„Ja?“
„Ich habe Jonas eine Geige besorgt. Bitte, sei nicht sauer! Jonas ist ein kleiner Musiker, du weißt das. Ja, er ist auch ein toller Judoka, aber eben auch ein Musiker! Er wird ganz schnell gut spielen können, ich spüre das. Und wenn nicht, dann schick ihn zum Üben rüber zu Susanne! Es tut mir leid, dass ich dich nicht gefragt habe. Susanne weiß aber Bescheid.“
Christian lacht laut auf.
„Aha! Ihr habt das also alles hinter meinem Rücken abgemacht? Toll.“ Er grinst.
„Und jetzt glaubst du, ich bin sauer deswegen? Ihr haltet mich echt alle für gehirnamputiert, oder? Es war doch klar, dass du eines Tages mit irgendeinem Instrument für ihn aufläufst. Ich hab mit Papa gewettet, wann es soweit sein wird.“
Christian lässt sie los.
„Ach, Jonas wird sich freuen. Ich bin mir sicher. Und weißt du, in modernen, der Digitalisierung nicht abgeneigten Haushalten gibt es sowas wie Bluetooth. Damit kann man über Kopfhörer kabellos Musik hören. Kennt ihr Geigenspieler sowas? Ich kann damit sogar elektronische Musik hören! Laut! Mich wird das Gejaule nicht stören.“
Sie ist erleichtert. Irgendwie hat sie das Gefühl, als ob heute alles möglich ist. Dass keiner von ihnen wegen irgendwas sauer sein kann. Woran liegt das? Weil Papa noch da ist? Weil sie alle mit einem Schrecken davongekommen sind?
Christian geht rüber zu Anna, die auf ihn wartet. „Wir machen uns mal auf den Weg, oder?“, sagt er.
Nina sieht jetzt zu Sascha. Sie blicken sich tief in die Augen, dann nicken beide.
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Saschas Herz klopft. Jetzt oder nie. Nina schaut ihn noch einmal intensiv an, dann geht sie zu Christian und Anna.
„Ach, und Christian? Anna? Wir müssen euch noch etwas sagen.“ Sie nimmt Saschas Hand.
„Sascha und ich sind zusammen. Seit sechs Monaten. Wir wissen, dass der Altersunterschied groß ist. Vor allem ich bin mir dessen bewusst. Aber es ist, wie es ist.“
Sein Herz schlägt so laut, dass er glaubt, jeder müsse es hören. Er legt einen Arm um Nina und drückt sie an sich.
Christian und Anna starren sie an.
Niemand sagt etwas.
Nina lächelt unsicher und wippt von einem Fuß auf den anderen.
Er beugt sich zu seiner Mutter vor und schaut sie durchdringend an.
„Ok!“, sagt Anna. „Das ist eine Überraschung.“
„Wir sind uns am Konservatorium wiederbegegnet“, sagt er. „Nina lehrt dort. Als ich nach Den Haag ging, wusste ich gar nicht, dass Nina auch Dozentin ist. Tja, und irgendwie ging es dann ganz schnell – zumindest von meiner Seite aus. Nina hatte natürlich Bedenken, vor allem wegen euch! Aber ich finde, das ist totaler Quatsch.“ Er nimmt Ninas Hand.
Puh, ist das anstrengend. Christians Blick wandert die ganze Zeit zwischen ihm und Nina hin und her.
„Christian? Kannst du auch mal was sagen?“ Nina wedelt mit der Hand vor Christians Gesicht.
„Ja! Toll! Ich finde es einfach überraschend. Aber der Altersunterschied ist mir persönlich total egal. Und ehrlich, das geht uns doch auch gar nichts an, oder? Herzlichen Glückwunsch!“ Christian lacht sie beide an. Halleluja!
„Weiß Papa es schon? Wahrscheinlich, oder?“
„Nein! Eben nicht. Eigentlich sollte er der Erste sein, der es von mir erfährt. Ich wollte mir erstmal eine Portion Mut bei ihm abholen. Aber jetzt können wir es euch auch genauso gut direkt sagen.“ Nina schaut zu Anna. Anna sieht verwirrt aus.
„Mama?“ Er beugt sich wieder zu Anna vor.
„Äh, ja, nein, alles gut! Ohje, entschuldigt das Gestammel.“ Anna lächelt sie an.
„Ich bin einfach fertig, es war – es ist – alles so aufregend und so viel. Ich freue mich für euch! Ich muss mich nur mal kurz setzen. Ich habe heute noch nichts gegessen und mir ist ein bisschen schlecht.“
Nina holt eine Packung Kekse aus ihrer Tasche.
„Hier bitte. Ich hab immer Kekse dabei. Ist sone Macke von mir. Weil ich oft vergesse zu essen, wenn ich probe.“ Nina lächelt Anna zu.
„Danke, das ist nett.“ Anna sieht ganz blass aus und beißt in einen Keks.
„Lass uns nach Hause fahren, Anna. Ich finde auch, das war echt viel heute.“ Christian reicht ihr seine Wasserflasche. Dann drückt er Nina noch einmal an sich.
„Sag Bescheid, wenn Papa wach ist. Und dann kommt auch bald zu uns, ok?“
Sie schauen Christian und Anna hinterher. Sascha spürt Ninas Unsicherheit. Aber sie können nicht ändern, was andere über sie denken. Und es ist auch nicht wichtig. Zumindest hatten sie sich vorgenommen, es genau so zu sehen.
Doch dann dreht sich Anna noch einmal um und ruft: „Ich freue mich für euch!“, und lächelt sie beide an.
Meine Güte, kurz und schmerzlos. So lange drüber nachgedacht und jetzt einfach gesagt. Nina dreht sich zu ihm um.
Er grinst sie an: „Ich hab doch gesagt, dass es halb so wild wird. Ihr alten Leute müsst immer so ein Gewese machen!“ Er lacht, duckt sich vorsichtshalber und läuft weg.
„Ich gebe dir gleich ‚alte Leute‘. Mit meinem Geigenkasten kann ich wunderbar Leute wie dich erschlagen!“, ruft Nina und rennt ihm hinterher.
22. Türchen: Christian und Anna
„Na, das sind ja Neuigkeiten. Wie findest du das? Hast du ein Problem damit?“ Christian sieht zu Anna rüber, die einen Keks nach dem anderen aus der Packung isst.
„Nein, überhaupt nicht. Sascha war schon mit 14 in Nina verknallt. Aber das war natürlich nur so eine Schwärmerei. Sie war die tolle Musikerin und er hat gerade erst die Musik für sich entdeckt – durch deinen Vater. Na ja. Jetzt ist er 20. Und wie alt ist Nina?“
Christian überlegt. „Moment, lass mich rechnen. Sie ist gerade 34 geworden.“
„Ich kenne kein Paar mit diesem Altersunterschied, deshalb war es für mich erstmal komisch. Aber ich finde es voll beunruhigend, dass sie sich scheinbar Sorgen über unsere Reaktion gemacht haben. Komme ich so spießig rüber? Ach Mensch.“ Anna beißt in den nächsten Keks.
„Nein, du kommst überhaupt nicht spießig rüber.“ Er schaut wieder zu ihr rüber. Er mag eigentlich alles an ihr. Verdammt, wie kriegt er denn jetzt die Kurve? Das ist doch die Gelegenheit, mal was Nettes zu sagen.
„Ich finde dich eigentlich ziemlich toll!“ Scheiße, jetzt ist es raus. So direkt wollte er eigentlich gar nicht sein. Jetzt kommt er sich vor wie der letzte Vollidiot. Ok, dann muss er jetzt einfach dazu stehen. Er grinst sie an.
„Und wo ich schon so dabei bin, kann ich dich ja auch direkt fragen: Wollen wir nicht mal was zusammen machen? Was trinken gehen? Oder auch Kino, Dings, irgendwas?“
Anna grinst ihn an, ihr Schal ist voller Krümel.
„Gerne. Was ist Dings? Ich glaube, was trinken gehen, Kino und Dings finde ich gut.“
Sie lachen beide.
Das war ja einfach!
Sie sind beim Auto angekommen. Er hält ihr die Tür auf. So macht man das doch, oder? Sein Vater würde das so machen.
„Das hast du aber schön von Karl gelernt, oder? Danke.“ Sie grinst ihn an.
Er geht ums Auto rum und kann nicht anders. Er lacht einmal laut auf.
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Shit, der ganze Schal ist voller Krümel. Anna sitzt auf dem Beifahrersitz und weiß nicht, wohin mit den Krümeln. Christian hat ihr sogar die Tür aufgemacht. Und jetzt? Sie findet das alles sehr aufregend. Und sie möchte am liebsten laut lachen. Wie albern! Aber sie hat sowas so lange nicht mehr gehabt, sie freut sich einfach.
Christian findet sie toll und er will Kino und Dings mit ihr. So einfach ist das!
Er öffnet die Fahrertür und steigt ein. Er dreht sich zu ihr und beide müssen wieder lachen. Er nimmt kurz ihre Hand und führt sie zu seinem Mund. Puh.
„Ok, jetzt gehts heimwärts. Heiligabendprogramm. Mit allem Drum und Dran. Ich bring dich erstmal zu euch. Ich kann euch auch gleich abholen?“ Christian fährt vom Parkplatz runter.
„Sascha kommt ja hoffentlich gleich auch mit meinem Auto zurück. Falls es bei ihnen aber später wird, komme ich gerne nochmal auf dein Angebot zurück.“ Sie lächelt ihn an.
Oh mein Gott. Sie ist 44 Jahre alt und sie fühlt sich wie mit 20. Aber sie muss zugeben, es gefällt ihr.
Sie denkt kurz an Karl. An die Sorgen, die sie sich gemacht haben. Und jetzt feiern sie Weihnachten zusammen. Wegen ihm, aber ohne ihn. Was für eine Achterbahnfahrt.
„Ich mag deinen Vater sehr. Ich kenne eigentlich niemanden, der so geradeheraus und dabei immer freundlich und aufrichtig ist. Er lebt einfach nach seinen eigenen Regeln. Er schert sich einen Dreck um die Meinung anderer. Familie ist alles für ihn, ebenso wie die Menschen, an denen ihm etwas liegt. Es hört sich vielleicht komisch an, aber er hat auch für mich etwas Väterliches. Ich bin froh, dass es ihm gutgeht. Ihr müsst gut auf ihn aufpassen. Ich weiß, er lässt sich nichts sagen, aber der Schreck von heute hilft vielleicht.“ Sie schaut zu ihm rüber und mustert ihn.
„Ja, das müssen wir. Oh Mann, das wird nicht leicht. Aber zusammen kriegen wir ihn vielleicht ein bisschen gezähmt. Wenn er das will! Wenn er nicht will, können wir das eh alles vergessen. Aber dann ist es eben so. Das ist ja sowieso sein Motto.“
Christian sieht zu ihr rüber.
Und dann lächelt er sie an. Krass. Einfach so!
Und sie lächelt zurück.
23. Türchen: Fast alle
Marie ist im siebten Himmel. Mama und Sascha haben ihr ein Laptop mit einer riesigen Grafikkarte geschenkt! Jetzt kann sie endlich ihre Charaktere animieren und ihre Geschichten lebendig werden lassen! Sie freut sich so darüber. Und dann ist auch noch Jan total interessiert an ihren Geschichten. Er hat ihr tatsächlich ernsthaft zugehört, ohne einen einzigen blöden Spruch. Und er hat nichts mehr zu ihren Haaren gesagt. Sie sind wirklich komplett von einem grünlichen Schleier überzogen. Marie hat sie zu zwei Schnecken auf ihrem Kopf zusammengebunden. Dazu ist sie schwarz gekleidet und trägt ganz dunklen Lippenstift. So sieht sie aus, wie eine ihrer Charaktere. Sie hat richtig gute Laune! So schön haben sie eigentlich noch nie Weihnachten gefeiert. Schade nur, dass Herr Langner nicht dabei ist. Krass eigentlich, dass sie nur hier zusammensitzen, weil er fast gestorben wäre. Sie hat sich fest vorgenommen, ihn auch morgen früh zu besuchen.
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Jan nippt an seiner Cola. Der Abend ist gar nicht so ätzend, wie er befürchtet hatte. Eigentlich ist er richtig gut. Mal was anderes als immer nur das Gleiche mit seiner Familie. Außerdem hat er sich dieses Mal echt über die Geschenke gefreut. Seine Mutter hat ihm einen Trip ans Meer geschenkt. Das fand er erst komisch, aber dann hat er sich doch gefreut. Er darf alles aussuchen. Sie wird sich wundern. Er grinst.
Sein Vater hat ihm eine Hängematte geschenkt und eben schon direkt die Haken in die Wände gebohrt. Er glaubt ja, dass da jetzt was läuft zwischen Anna und ihm. Die beiden sind wie ausgewechselt. Findet er gut. Anna ist in Ordnung. Und wenn sein Vater dann besser drauf ist, umso besser.
Na ja, und er findet es schon auch gut, dass Marie da ist. Hätte er ja nicht mit gerechnet. Aber sie hat echt coole Storys im Kopf, da hat der Opa schon recht. Sie hat ihm ein bisschen was an ihrem Handy gezeigt. Fette Zeichnungen! Und die grünen Haare sehen echt gut aus. Viel besser als dieser Henna-Scheiß. Das muss er ihr noch dringend sagen. Aber wie? Hm.
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Jonas zupft an seiner neuen Geige. Es ist das beste Geschenk, das er jemals bekommen hat. Außerdem ist er noch ganz zittrig, weil seine Überraschung für alle anderen so aufregend war. Dieses Mal war es kein selbstgemaltes Bild, sondern ein Lied, das er auf dem kleinen Keyboard von Opa gespielt hat. Opa hat es ihm ausgeliehen und vorher ganz oft mit ihm geübt. Das Lied ist richtig schön traurig. Nina fand es richtig schön. Und Papa hat genauso die Augen verdreht, wie Opa es sich gewünscht hat. Aber Papa kam anschließend zu ihm und sagte, dass er es ganz toll fand! Wenn sie morgen zu Opa fahren, dann erzählt er es ihm direkt. Und er zeigt ihm die Geige, da wird er staunen.
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Anna sitzt bei Susanne und hat ein Bein über Susannes gelegt. „Es ist so schade, dass wir uns so lange nicht gesehen haben. Können wir das ändern, bitte?“, sagt sie zu ihr.
„Ja, ich war ein bisschen abgelenkt. Es tut mir leid.“ Susanne schaut ihre Freundin an. Sie muss jetzt den Dreh kriegen. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Los, trau dich!
„Nun sag doch schon, wer ist denn der Glückliche? Ich verstehe gar nicht, warum du so ein Geheimnis daraus machst! Oder, warte. Nein, ist es etwa dein Kollege? Sag nicht, dass es dein Kollege ist, dann raste ich aus!“ Anna sieht Susanne mit großen Augen an.
„Nein, nicht meiner. Eher deiner. Also eigentlich ist es deine Kollegin.“ Susanne hält die Luft an. Sie kann förmlich sehen, wie es in Anna arbeitet.
„Lisa?“, ruft Anna laut. „Meine Kollegin Lisa?“
„Pssst, nicht so laut! Ich trau mich noch nicht, es allen zu erzählen.“
Anna schaut sie mit offenem Mund an.
„Lisa?“, wiederholt sie ganz leise. „Das gibt es doch nicht. Seit wann?“
„Seit deinem Geburtstag im Sommer.“
„Ich flipp aus! Wie cool ist das denn? Hast du Angst, dass Jan und Jonas das doof finden? Ich glaube, dass die das viel lockerer nehmen, als wir so denken. Trau dich einfach.“
„Ja, aber am meisten habe ich Angst, dass Christian das richtig scheiße findet und das bei den Kindern raushängen lässt.“
„Meinst du? Aber wieso? Es wird ihn beschäftigen, das bestimmt. Aber ich glaube nicht, dass er das verurteilen würde. Das ist ein Unterschied.“ Anna drückt Susannes Hand.
„Ok, weißt du was? Ich erzähle es jetzt Christian. Und morgen dann den Kindern. Ganz in Ruhe. So dass sie ungestört Fragen stellen können.“
Susanne steht auf, zieht ihren Rock glatt und läuft rüber zu Christian.
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Christian schaut sich in der Runde um. Er hat immer noch nicht richtig realisiert, dass sein Vater heute in seinem Auto einen Herzinfarkt hatte. Es war echt knapp. Er bekommt Gänsehaut bei dem Gedanken, dass sein Vater heute hätte sterben können.
Er schaut zu Anna. Er kann auch kaum glauben, dass sie beide sich nächste Woche treffen – einfach so. Er freut sich so darüber. Anna sieht ihn an und lächelt. Er lächelt zurück. Und jetzt kommt Susanne auf ihn zu, er ist gespannt. Vielleicht hat Anna ihr von ihnen erzählt?
„Christian? Ich muss dir was sagen.“
Was kommt denn jetzt.
„Ich habe eine Freundin. Keinen Freund, sondern eine Freundin. Wie einen Freund. Also statt Freund habe ich eine Freundin. Verstehst du, was ich meine?“ Susanne schaut ihn ein wenig wirr an.
„Du meinst, du hast eine Freundin? So statt Freund?“
„Genau. Das ist es, was ich mich nicht getraut habe, euch zu sagen. Schon seit dem Sommer. Es ist Annas Kollegin Lisa. Und Anna weiß es auch erst seit gerade. Aber das hat nichts mit dir zu tun oder mit uns und damals und so. Das ist ganz neu, auch für mich! Aber ich meine es ernst und ich möchte das. Und ich werde es morgen den Kindern sagen.“
Susanne lässt sich auf den Stuhl neben ihm fallen und atmet tief aus.
„Ok. Cool!“ Er sieht zu ihr rüber. Seine Exfrau hat jetzt eine Freundin. Lisa. Warum nicht?
„Und ich habe Anna gefragt, ob sie mit mir ausgeht.“ Er blickt geradeaus und sieht im Augenwinkel, wie Susanne ihn anstarrt.
„Halleluja! Endlich!“, sagt sie und haut ihm aufs Bein.
„Jaja, ich hab schon verstanden, dass ihr alle schon immer wusstet, dass Anna und ich mal ausgehen sollten. Ich sag‘s den Kindern auch morgen. Wollen wir unsere Sünden gemeinsam beichten?“ Er grinst Susanne an.
„Au ja“, sagt sie und lächelt. Dann mustert sie ihn: „Schade, dass wir zwei nicht zueinander passen, oder? Zumindest nicht so.“
„Ne, eigentlich nicht!“ Er lacht. „Wir sind schon gut so, wie wir sind.“ Er schüttelt mit dem Kopf. Was für ein Tag.
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Nina und Sascha sitzen auf der Couch und schauen zu den anderen rüber. Jan guckt ständig zu ihnen. Und Marie erst. Sascha geht zu ihnen rüber und sagt Marie, dass sie seine neue Freundin ist. Sie muss lächeln. Marie schaut zu ihr herüber und lächelt zurück. Etwas verunsichert, aber sie lächelt. Gut, dann ist das auch erledigt. Puh.
Nina ist müde. Es war ein wirklich aufregender und anstrengender Tag. Sie war bei ihrem Vater, als er aufwachte. Ihm geht es einigermaßen gut. Sie hat ihm nochmal in Ruhe alles erzählt, dass die ganze Familie da war. Das hat ihn sehr gerührt.
Sie hat ihm leise ihr gemeinsames Lieblingslied „If“ vorgespielt. Er hat ihr vor vielen Jahren die Noten für Solo-Violine herausgeschrieben und sie immer auf dem Klavier begleitet. Seither spielen sie es jedes Jahr zu Weihnachten.
Viele Menschen verstehen ihre Liebe zu traurigen Musikstücken nicht. Manche meiden diese Art von Musik, weil sie sie anrührt. Doch ihr Vater und sie, sie sind sich ganz nah, wenn sie diese Melodien spielen. Es ist ihre Art, miteinander zu kommunizieren. Und bald wird Jonas mit einstimmen. Darüber freut sie sich.
Innerlich ist sie unruhig. Ihr Vater ist an Heiligabend nicht mit seiner Familie zusammen. Und genau das macht ihr zu schaffen. Das ist nicht richtig.
„Christian? Ich möchte nochmal ins Krankenhaus. Heute ist Heiligabend. Papa liebt diesen Tag. Es bricht mir das Herz, dass er allein in diesem Krankenzimmer ist. Anna, kannst du mich da irgendwie reinschleusen?“
„Ich komme mit“, sagt Sascha.
„Ok.“ Sie lächelt.
„Wie spät ist es? 20 Uhr? Ja, das wird schon gehen. Wer will denn alles mit?“, fragt Anna. „Ich kriege uns schon da rein. Ich rufe nur kurz meine befreundete Ärztin Lisa an, sie hat heute Dienst. Das geht schon in Ordnung.“ Anna grinst zu Susanne rüber.
„Wir müssen nur echt leise sein!“
Nina schaut in die Runde. Und es überrascht sie nicht, dass sich alle nur kurz ansehen, dann gemeinsam aufstehen und ihre Jacken holen.
24. Türchen: Opa Karl
Er liegt im Krankenhausbett, die Nachttischlampe macht ein schummeriges Licht. Er schaut aus dem Fenster. Es ist ein sternenklarer Abend, klirrendkalt. Vielleicht schneit es heute noch. Darüber würde Jonas sich sicher freuen.
Weiße Weihnacht! So wie früher, als er noch ein Kind war und mit seiner Familie an der Grenze zu Polen lebte. Damals gab es fast immer zu Weihnachten Schnee.
Wie lang war das her. Es kommt ihm vor, als hätte er seitdem mehrere Leben gelebt.
Er greift zu dem Bilderrahmen. Tilda lächelt ihn an. In einer Ecke des Bildes klemmt lose ein Foto. Das Foto aus dem Fernsehzimmer. Es muss ungefähr 30 Jahre alt sein. Mit dem pubertierenden Christian und der kleinen Nina. Er lächelt.
Einer fehlt auf dem Bild. Er denkt an ihn und wird traurig, auch noch nach all den Jahren. Zwischen Christian und Nina gab es noch Janek. Er starb, als er noch ein kleiner Junge war. Er hat nie richtig am Leben teilnehmen können, zumindest nicht so, wie man sich das vorstellt und wie sie es sich für ihn gewünscht hatten. Und Christian – er war so ein tapferer großer Bruder gewesen. Er musste eine ganze Menge mittragen und auf vieles verzichten. Karl nimmt sich vor, Christian ganz feste zu drücken, wenn sie sich morgen sehen.
Ach verdammt, was wird er denn jetzt so sentimental. Schließlich ist nochmal alles gutgegangen. Das wäre ja auch noch schöner gewesen – an Heiligabend abtreten. Nicht mit ihm. Und nicht mit Anna und Christian, die ihn ins Krankenhaus gebracht haben.
Seine Gedanken schweifen zu seiner Familie. Jetzt gibt es bestimmt gerade Raclette und Geschenke. Jonas hat schon sein Lied vorgetragen. Und Christian hat die Augen verdreht. Hach, das hätte er so gern gesehen. Und natürlich ist Christian trotz der Augenrollerei stolz wie Bolle. Oder nein, eigentlich ist gerade das seine Art, dem Kleinen zu zeigen, wie stolz er auf ihn ist. Etwas krumm, aber sie verstehen sich schon.
Und Nina. Er ist froh darüber, dass sie eben bei ihm war. Hat ihr Lied gespielt. Es lief ihm wieder heiß und kalt den Rücken runter. Was für eine schöne Melodie. Nächstes Jahr begleitet er sie wieder auf dem Klavier.
Er wird ab jetzt besser auf sich aufpassen. Die Medikamente regelmäßig nehmen. Wozu gibt es denn Wecker? Muss er sich den halt mal stellen. Und vielleicht sollte er Jan mal fragen, ob es dieses Kifferzeug nicht auch in homöopathischen Dosen gibt, damit er ein bisschen ruhiger wird. Er ist innerlich immer so rappelig! Heutzutage nennen sie das ‚hyperaktiv‘, oder so ähnlich. Er kennt sich damit nicht aus. Heute hat alles einen Namen. Irgendwas würde man ihm bestimmt attestieren. Er lacht laut auf.
Die Tür geht auf und die nette Ärztin kommt herein. Er kennt sie, hat sie sofort wiedererkannt. Er hat sie vor ein paar Wochen zusammen mit Susanne Hand in Hand in der Nachbarstadt gesehen, als er an ihnen vorbeigefahren ist. Soweit er weiß, ist das ein Geheimnis. Zumindest ist bei ihm noch keine Neuigkeit in der Richtung angekommen. Und nachgefragt hat er auch nicht. Geht ihn ja auch nichts an. Er muss grinsen.
„Guten Abend! Auch noch hier? Na, das haben Sie sich bestimmt auch anders vorgestellt, oder?“ Karl setzt sich auf.
„Ach, eigentlich ist das ganz in Ordnung so. Wie fühlen Sie sich denn? Irgendwelche Beschwerden? Herzrumpeln, Kreislauf?“
„Alles gut. Also den Umständen entsprechend. Ich hab sogar etwas Hunger. Wenn ich daran denke, dass ich zu Hause ein ordentliches Steak bekommen hätte, dann läuft mir schon das Wasser im Mund zusammen.“
„Ja, das Steak. Da reden wir morgen mal drüber. Aber ich freue mich, dass es Ihnen soweit gut geht.“ Sie überprüft seinen Puls.
„Ich geh dann mal wieder. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. Aber machen sie nicht zu dolle“, sagt sie und lächelt ihm zu.
Was meint sie denn damit? Was soll er nicht zu dolle machen? Nicht zu dolle aus dem Fenster gucken, oder was?
Sie öffnet die Tür und hält sie auf. Sie lächelt noch einmal zu ihm rüber. Und da kommen sie.
Jonas als Erster. Er rennt auf ihn zu und legt sich halb auf das Bett.
„Opa!“ flüstert er und drückt sich an ihn.
Dann Jan. Er stellt sich neben ihn. „Opa!“ flüstert auch er und nimmt seine Hand.
Christian, Nina und Sascha.
Christian setzt sich ans Bettende und hat Tränen in den Augen. Dann lacht er. „Mach bloß nicht nochmal so einen Scheiß, hörst du?“
Susanne bleibt kurz bei der Ärztin stehen und für einen kurzen Moment halten die beiden sich an den Händen. Karl schüttelt den Kopf. Hoffentlich hören die bald mit der Heimlichtuerei auf.
Anna und Marie kommen als Letzte. Marie sieht so hübsch aus. Hat zwei Schnecken auf dem Kopf und grüne Haare! Prima!
„Hey!“, ruft er. „Was macht ihr denn hier?“
Er versucht, sich noch gerader aufzusetzen.
„Es ist Heiligabend. Ohne dich geht das nicht“, sagt Nina. Sie lehnt sich an Sascha.
„Mensch, ich freue mich, dass ihr da seid. Und Jonas, hast du vorgespielt?“
„Ja klar. Und Papa hat die Augen verdreht!“ Jonas lacht laut auf! Alle anderen auch.
„Ich habe eine Geige geschenkt bekommen! Von Nina!“ Jonas macht große Augen und nickt ihm zu.
„Hey, na dann weißt du ja, was du für nächstes Jahr Weihnachten üben musst!“ Er drückt Jonas‘ kleine Hand.
„Jaja, noch son Nerd in der Familie. Aber zum Judo gehst du trotzdem.“ Christian lächelt und wuschelt Jonas durchs Haar.
Anna steht neben Christian und lächelt Karl an. „Frohe Weihnachten“, sagt sie leise zu ihm.
Karl nimmt ihre Hand und drückt sie.
„Ich kann euch leider nichts anbieten, der Pizzabote feiert auch Weihnachten“, sagt er in die Runde.
„Kein Problem. Wir sind satt. Aber wir haben dir was mitgebracht. Hast du Hunger?“ Nina packt mehrere Tupperdosen aus.
„Wie jetzt, hast du Fleisch eingepackt, oder was? Am besten noch den Kuchen vom Nachtisch? Als ob das jetzt das Richtige wäre!“ Jan baut sich vor Nina auf und begutachtet den Inhalt der Tupperdosen.
„Jetzt sei doch nicht so streng“, sagt Susanne. „Karl kann selbst entscheiden, was er isst.“
„Ja, aber dann landen wir ganz schnell wieder bei Frikadellen, Kartoffelsalat und dem ganzen ungesunden Zeug.“ Christian schaut erst zu Susanne, dann zu Nina, dann zu Anna.
Karl blickt in die Runde. Hört zu, wie sie diskutieren. Über seine Ernährung. Fleisch ja oder nein. Bier ja oder nein. Er lächelt.
Jonas hat in der Zwischenzeit die Schuhe ausgezogen und ist auf sein Bett geklettert. Er rutscht nach oben zu ihm und flüstert ihm ins Ohr: „Ich habe ein Geschenk für dich, Opa. Guck hier.“
Er zieht ein kleines Stofftier hinter seinem Rücken hervor. Es ist pink und sieht furchtbar süß aus.
„Ein Axolotl“, sagt er zu Jonas.
„Du hast dir den Namen gemerkt?“ Jonas strahlt ihn an.
„Aber sicher. Schließlich sind das doch deine besten Freunde. Und davon merkt man sich doch die Namen, oder?“ Jonas umarmt ihn und er drückt den kleinen Kerl fest an sich.
Er schaut rüber zu dem Bilderrahmen. Er lächelt Tilda an. Heute noch nicht, flüstert er ihr in Gedanken zu. Heute noch nicht.
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Für Opa Gerd